Kallmann-Museum:Schöpfer der Scheinwelten

19 Künstler und Künstlerinnen zeigen ihre Werke im Ismaninger Kallmann-Museum. In der Ausstellung "Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie" spielen sie raffiniert mit dem Wahrnehmungsvermögen des Betrachters und inszenieren verschiedene Wirklichkeitsebenen

Von Udo Watter, Ismaning

Inmitten einer gewaltigen Berglandschaft duckt sich unter einem riesigen Felsvorsprung eine Berghütte. Wie ist dieses durchaus massive Haus, das hier freilich surreal winzig erscheint, in eine so bedrohliche und unzugänglich anmutende Szenerie hineingeraten? Wenn man das Bild des Fotokünstlers Thomas Wrede betrachtet, könnte einen eventuell ein ambivalentes Gefühl durchströmen, das Kant und Schiller in ihren ästhetischen Untersuchungen das "Erhabene" genannt haben. Bei genauerer Anschauung drängt sich freilich ein anderes philosophisches Sujet in den Vordergrund: Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit? Oder konkreter: Wie fragwürdig ist eigentlich unsere eigene Wahrnehmung, was für ein Verhältnis haben Bild und Realität?

In Wirklichkeit hat die Hütte nämlich die Größe einer Zigarettenschachtel und die spektakuläre alpine Szenerie ist realiter ein Ausschnitt aus einer Felsformation im Sauerland. "Das Verhältnis von Künstlichkeit und Wirklichkeit spielt in meinem Schaffen schon lange eine Rolle", sagt Wrede. Er ist einer von 19 Künstlern und Künstlerinnen, die in der neuen Ausstellung im Ismaninger Kallmann-Museum ihre Werke zeigen: "Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie" heißt diese ungewöhnliche Gruppenausstellung - und sie zeigt auf faszinierende Weise, wie wenig wir als Betrachter unseren Sinnen und unserem Kopfkino im klassischen Sinne trauen können.

Oft sind dabei die Modelle, die den Fotografien zugrunde liegen, in aufwendiger Handarbeit von den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern selbst angefertigt worden, Wrede platziert in seinen "Real Landscapes" neben kleinen Modellhäusern mitunter auch Spielzeugautos in echte, unveränderte Landschaften hinein - aber eben so geschickt, dass durch Maßstabverschiebungen optische Täuschungen und somit beeindruckende Scheinwelten entstehen: aus einer Pfütze wird ein See, aus einer Sandgrube am Nordseestrand eine hochalpine Szenerie. Digital bearbeitet wird hier quasi nichts - es sind die Lichtverhältnisse und das Fehlen von Größenverhältnissen, die ihre irritierende Wirkung zeitigen. Manchmal muss Wrede, der als guter Kenner der Wattlandschaften seinen Sinn für Details und das Modellhafte in der Natur geschärft hat, auch Wochen warten, um das richtige Licht einzufangen.

Ein besonderer Hingucker ist sein Werk "Oberhalb des Tales", wo zwei Sportwagen und eine Villa en miniature so über einer dämmernden italienischen Gebirgsgegend auf einem lediglich ein Meter großen Felsen positioniert sind, dass dieser wie ein großer spektakulärer Kalkblock wirkt. "Faszinierend", findet Museumsleiter Rasmus Kleine die Arbeiten von Wrede, der mit scheinbar einfachen Mitteln neue Welten und Panoramen schafft.

Ähnliche Eye Catcher sind Frank Kunerts Arbeiten, der in seinen Fotografien indes kaum mehr Reales mit einbindet, sondern mittels selbst gefertigter Modelle, oft aus Leichtschaumplatten konzipiert, gleichsam augenzwinkernd seine Ideen umsetzt. "Es sind Kommentare zu den Absurditäten des Lebens", sagt Kleine. Da sieht man einen "Flugsteig" hoch in den Wolken, der einer S-Bahn-Haltestelle ähnelt - statt eines örtlichen Umgebungsplanes hängt hier freilich eine Weltkarte neben den in gelb-schwarz gehaltenen Abfahrtszeiten und einem Abfalleimer. Skurril auch "Grüne Insel", wo ein modelliertes Panoptikum aus Fabrik, Baum und Heuwagen mit roter Parkbank eine kleine Welt generiert, die wie satirisch-magischer Realismus wirkt. Mit seinen Fotos von selbst gefertigten Modellen könne er "spielerisch etwas über die Welt erzählen", sagt Kunert. Zu klein dürfen dies freilich nicht sein, eine gewisse Größe ist wegen der Schärfentiefe und der intendierten Detailgenauigkeit der abgelichteten Objekte notwendig.

Generell ist den meisten Fotoarbeiten der Ausstellung zu eigen, dass ihre Schöpfer Kamerastandpunkt, Ausleuchtung, Belichtungszeit und Fokussierung so gezielt einsetzen, um die gebaute Natur im Bild möglichst echt erscheinen zu lassen. Indessen gibt es schon Unterschiede in der Erkennbarkeit des Künstlichen. Mitunter reicht ein einfacher, genauerer Blick, mitunter ist die Täuschung fast perfekt. Zu sehen sind in Ismaning auch modellierte Gebirgs- und Schneelandschaften, die an Gemälde der Romantik erinnern - etwa James Caseberes "Sea of Ice", das an Caspar David Friedrichs "Eismeer" gemahnt.

Sonja Brass' Arbeiten stellen die Fragen, wie natürlich und echt Natur tatsächlich ist? Wie sehr unser Blick konditioniert und wie vertrauenswürdig eigentlich noch das Medium der Fotografie ist. In Zeiten, in denen der Begriff "Fake News" den politischen Diskurs prägt und in denen die Digitalfotografie mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der Manipulation Tür und Tor öffnet, sind solche Fragen für Künstler wie Publikum hoch relevant. Das Spiel mit diversen Wirklichkeitsebenen beherrschen auch David LaChapelle mit einem illuminierten Tankstellenmodell im nächtlichen Dschungel ("Gas Shell") oder auch Suzanne Moxhay, die in "Thicket" Baumgruppen in verfallene Bauwerke so stellt, dass die Maßstäbe und Motive zugleich real und surreal wirken, sie sind quasi ver-rückt. Wie bei zahlreichen anderen der in Ismaning gezeigten Werke, etwa bei den modellierten Vorstandszenarien von Oliver Boberg und anderen urbanen Unorten, beschleicht den Betrachter freilich oft ein befremdliches Gefühl. Es schimmert gleichsam immer ein dystopischer Charakter durch. Die visuellen Täuschungen, die ambivalente Künstlichkeit der Objekte unterminiert die Verlässlichkeit der Sinne, entzieht dem Wahrnehmungsvermögen den Boden unter den Füßen. Man weiß es und lässt sich doch manipulieren.

"Die Täuschung funktioniert", so Kleine. Das gilt mehr oder weniger auch für Hans Op de Beecks Film "Staging Silence", der in ruhiger Bildsprache diverse Metamorphosen in einer Miniatur-Kulisse begleitet: da verwandeln sich etwa Kartoffeln zu Seychellen-Felsen in einer imaginär paradiesischen Landschaft, man sieht die Hände, die immer wieder in die Kulisse greifen - und lässt doch die beabsichtigten Vorstellungen irgendwie zu. Jeder Moment kann die Wirklichkeit verändern.

Die Ausstellung im Kallmann-Museum Ismaning dauert bis zum 5. Mai. Zu sehen sind Werke von 19 Künstlerinnen und Künstlern.

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