Jahresrückblick:Im Ausnahmezustand

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Am 4. Februar meldet das Landratsamt den ersten Fall einer Corona-Infektion. Seitdem erleben die Menschen ein Jahr im Auf und Ab - vom Lockdown in einen entspannten Sommer bis in den erneuten Katastrophenfall. Dabei zeigen sie viel Empathie und auch Kreativität

Von Martin Mühlfenzl

Am Dienstag ist die Welt im Landkreis München noch halbwegs in Ordnung. Rundherum aber tobt bereits das Virus, die Republik schaut schon längst nicht mehr nur auf die Firma Webasto, wo bei Mitarbeitern die ersten Covid-19-Erkrankungen in Deutschland festgestellt worden sind. Am Mittwoch schließlich, es ist der 4. März, ist es auch im Landkreis mit der Ruhe vorbei.

Der Name von Patient null bleibt geheim, nur sehr wenige wissen, wie alt er ist, wo er wohnt. Nur so viel: Der erste Corona-Infizierte im Landkreis München ist ein Mann, auch seine schulpflichtige Tochter hat sich angesteckt. Wahrscheinlich beim Skifahren in den Faschingsferien in einem Risikogebiet in Italien. Nicht Ischgl, aber mit demselben Effekt. Beide, so heißt es in der ersten Pressemitteilung aus dem Landratsamt zu Coronainfektionen, seien wieder symptomfrei und in häuslicher Quarantäne. Die Behörden hätten alle Kontaktpersonen ermittelt, es handle sich um einen sehr kleinen Personenkreis.

Damals, Anfang März, war das noch möglich, dass die Mitarbeiter im Gesundheitsamt problemlos die Kontakte nachvollziehen und Menschen in häusliche Quarantäne schicken können. Schnell aber wird der Begriff "Kontaktperson der Kategorie 1" zum geflügelten Wort - wie ohnehin alles sehr schnell geht in diesem Corona-Frühjahr. Täglich warten die Menschen auf die neuesten Zahlen, die das Landratsamt im Frühjahr noch stets um 12 Uhr mittags veröffentlicht, und Mitte März wird sehr deutlich, dass es nicht bei Einzelfällen bleiben wird. Die Zahlen explodieren. Am 16. März ruft Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Katastrophenfall für den gesamten Freistaat aus.

Am 20. März wird es erstmals dreistellig. Insgesamt 117 dokumentierte Neuinfektionen stellen einen absoluten Rekordwert dar, der bis in den Herbst hinein nicht mehr erreicht werden soll. Das öffentliche Leben wird in dieser Zeit immer weiter heruntergefahren, ein stringentes Vorgehen ist zu Beginn der Pandemie im Landkreis allerdings nicht zu erkennen. Schulen entscheiden im Alleingang, ob sie schließen. Zunächst sind es die Gymnasien in Unter- und Oberhaching, die am 9. März komplett dicht machen, in Oberhaching hat sich eine Schülerin nachweislich infiziert. Auch die Grundschule in Neukeferloh stellt ihren Betrieb ein, zwei Arztpraxen im Landkreis müssen schließen.

Und es ziehen immer mehr Einrichtungen nach: In Höhenkirchen, Hohenbrunn, Aschheim, Haar, Unterschleißheim. Reihum werden Veranstaltungen abgesagt, in Putzbrunn ein Tag der offenen Tür in den Kitas, in Neubiberg die Ausbildungsmesse, Theaterstücke, Ramadama, Veranstaltungen der Volkshochschulen. Immer mehr kommt das öffentliche Leben zum Erliegen.

Ende März dann der Paukenschlag: Mit "Vollzug des Infektionsschutzgesetzes" schließt die Staatsregierung alle Schulen, es findet kein Präsenzunterricht mehr statt, lediglich eine absolute Notbetreuung wird aufrecht erhalten. Läden müssen schließen, Spielplätze werden mit Absperrband abgeriegelt, Kitas sind dicht, Gemeinderäte streichen ihre Sitzungen. Das Leben ruht.

In Haar stehen Menschen für einen Corona-Test an. (Foto: Claus Schunk)

Gleichzeitig handelt die Kommunalpolitik - und manchmal hat es den Anschein, Landrat Christoph Göbel (CSU) will dabei noch einmal schneller sein als der Ministerpräsident. Über den gesamten Landkreis verteilt werden Testzentren aufgebaut, anfangs noch sehr provisorisch wie etwa in Grünwald mit einem kleinen Zelt auf dem Sportplatz. In nahezu allen 29 Städten und Gemeinden werden die Teststrukturen aber in der Folge immer professioneller, teilweise gehen Kommunen Kooperationen ein - etwa Feldkirchen und Aschheim. Gleichzeitig rollt eine Welle der Solidarität über den Landkreis hinweg. In Haar, Neubiberg, Ismaning, Unterhaching und vielen anderen Städten und Gemeinden installieren Burschen- oder Sportvereine, Nachbarschaftshilfen, Künstler oder Parteien einen Einkaufsservice, um vor allem Risikogruppen zu schützen. Liebevolle Aktionen wie kleine Konzerte vor Altenheimen gibt es, der Landkreis richtet eine Corona-Hotline ein, an der Bundeswehr-Uni werden Schutzmasken im 3-D-Drucker hergestellt, Soldaten mixen Desinfektionsmittel.

Denn trotz aller Hilfsbereitschaft wird auch deutlich: Auf eine Pandemie ist das Land nur bedingt vorbereitet. Es fehlt vor allem an Schutzausrüstung für das medizinische Personal, an Masken, Schutzanzügen, Desinfektionsmittel. In dieser Phase nutzt Landrat Göbel seine Kompetenzen, die ihm der Katastrophenfall eröffnet. Er ruft das Technische Hilfswerk (THW) zu Hilfe und lässt auf einem ehemaligen Industriegelände nahe der Stadt Garching ein Lager errichten, in den Hallen wird Schutzausrüstung gelagert, die über die Flughäfen in Frankfurt und München aus der ganzen Welt eintrifft. In den Hallen türmt sich das Material bis unter die Decken, es wird von der Polizei streng bewacht - und von hier aus bayernweit verteilt. Davon profitiert auch der Landkreis. Zudem beruft Göbel den Oberhachinger Mediziner Oliver Abbushi zum Versorgungsarzt für den Landkreis München, er koordiniert die hausärztliche Versorgung und wird den gesamten Zeitraum nicht müde zu betonen, welch enormen Stellenwert die Mediziner bei der Bekämpfung der Krise einnehmen. Irritationen gibt es derweil immer wieder über verzögerte Meldungen bei den Todeszahlen; dies liege an unterschiedlichen Meldewegen, heißt es aus dem Landratsamt. Ein Problem, das sich nicht wird lösen lassen. Mitte April steigt die Zahl der Verstorbenen im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung auf 22.

Am 20. April kehrt dann bei strahlendem Sonnenschein wieder etwas Normalität zurück. Vor dem Gartencenter Kölle in Unterhaching etwa bilden sich lange Schlangen, im Baumarkt Rettenberger in Ottobrunn müssen sich Besucher am Eingang die Hände desinfizieren, in Unterschleißheim füllt sich die Bezirksstraße. Der Einzelhandel darf nach Wochen im Lockdown endlich wieder öffnen. Mit Sicherheitskonzepten locken die Unternehmer die Kunden an - und die sind dankbar, endlich wieder einkaufen zu dürfen. Mit dem April beginnt sich das Land wieder zu öffnen - und die Zahlen gehen in den Keller. Auch die Schulen bereiten sich auf die Öffnung vor.

Am 10. Mai ist es dann so weit: Das Landratsamt meldet erstmals seit Beginn der Pandemie im Landkreis keinen neuen Infektionsfall. Der Sommer kann beginnen. Die Null wird zwar nicht zur Normalität, aber das Infektionsgeschehen geht gewissermaßen in den Sommerschlaf. Die Gastronomie darf unter Auflagen wieder öffnen, die Freibäder laden mit begrenzter Publikumszahl zum Planschen. Gemeinden wie Unterhaching führen für das Freibad ein Online-Buchungssytem ein, was bei älteren, nicht ganz so internetaffinen Menschen wenig Begeisterung auslöst. Künstler finden sich plötzlich auf Bühnen wieder, die im Frühjahr arg angestaubt sind, der Breitensport wagt vorsichtig das Comeback, die Menschen zieht es nach draußen, viele verzichten im Sommer aber auf Reisen. Endlich ist es auch wieder möglich, die Angehörigen im Pflegeheim zu besuchen. Aber nicht alles wird wieder normal, den Unterhachinger Abiturienten etwa wird die Zeugnisverleihung im Sportstadion verboten, es dürfen auch im Freien einfach nicht mehr als hundert Menschen zusammenkommen. Dennoch: Der Landkreis erwacht.

Dann steigen die Zahlen wieder. 22 Neuinfektionen am 24. August. 28 am 15. September. 36 am 10. Oktober. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass es so nicht weitergehen kann. Längst spielt die Sieben-Tage-Inzidenz eine entscheidende Rolle, die "Ampel" zeigt an, welche Regeln gelten. Am 2. November reagiert die Staatsregierung, der "Teil-Lockdown" beginnt. Die Zahlen aber fallen nicht. Als am 16. Dezember Markus Söder die Reißleine zieht und einen scharfen Lockdown verhängt, werden im Landkreis 64 Neuinfektionen gemeldet - nur drei Tage später, an einem Samstag, explodieren die Zahlen: 158 dokumentierte Neuansteckungen sind ein trauriger Rekord. Seitdem steht das Leben wieder einigermaßen still. Seit Patient null ist viel passiert.

© SZ vom 28.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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