Publikation:Literarische Collage wider Corona

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Sibylle Madadkar, Vorsitzende des Gräfelfinger Inklusionsvereins "Traumwerker", hat ein Lese- und Bilderbuch gestaltet, das die Auswirkungen der Pandemie auf Menschen mit und ohne Behinderung beleuchtet. Es ist eine Mahnung, Inklusion ernster zu nehmen.

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Da ist Fabio, der in einer inklusiven Wohngemeinschaft lebt, und dessen ersehntes Praktikum im Sportgeschäft geplatzt ist, wegen Corona. Da ist Ralf, der im Wohnheim für Menschen mit Behinderung lebt und das Heim nicht mehr verlassen durfte, wegen Corona. Da ist Sabine, die als Musikerin in einer Wohnung mit Hinterhofgarten lebt und sich eine spontane Umarmung wünscht, diese wegen Corona aber lieber meidet. Da ist Andy, der wochenlang in selbst auferlegter Quarantäne lebte, weil er so viel Angst vor Ansteckung hatte und der in dieser Zeit 58 Gedichte geschrieben hat. Und da ist Pater Anselm Grün, der im Kloster lebt und für den der coronabedingte Lockdown im vergangenen Jahr kaum Veränderungen brachte.

Sie alle kommen zu Wort in dem Buch "Beschränkt - befreit. Corona ist doof", das der Gräfelfinger Inklusionsverein "Traumwerker" herausgegeben hat und das druckfrisch in Gräfelfinger Buchhandlungen ausliegt. Sibylle Madadkar, Vorsitzendes des Vereins, ist während der Pandemie mal eben zur Buchautorin geworden. Bewegt von den Auswirkungen von Corona, hat sie im vergangenen Jahr begonnen, Menschen mit und ohne Behinderung in ihrem weiten Freundes- und Bekanntenkreis und im Traumwerkerverein zu interviewen, wie sie die Pandemie und insbesondere die beiden Lockdowns mit Ausgangsbeschränkungen im vergangenen Jahr erlebt haben. Die Interviews hat sie aufgeschrieben und es kamen noch mehr Texte dazu: szenische Schilderungen ihrer eigenen Eindrücke der Pandemie, Texte von Gastautoren, Gedankenschnipsel, Sinnsprüche, und viele eigene sehr persönliche Überlegungen wie es um die Inklusion steht. Entstanden ist eine bunte Collage, die sich wie ein brennendes Plädoyer für Gemeinschaftssinn und Zusammenhalt liest.

Es ist eine hochwertige und schwergewichtige Ausgabe geworden

Das Buch ist ein echtes Schwergewicht geworden, kaum zu halten in einer Hand. Zwischen dicken Cartonage-Buchdeckeln, mit edlem Leinenrücken zusammengehalten, sind 190 Seiten in Großformat aufzublättern. Das Buch ist gestalterisch ein Lese- und ein Bilderbuch geworden. Dickes Papier, große Fotos, Schriftzüge, grafisch aufwendig gestaltete Doppelseiten machen Lust, darin zu blättern. Grafik, Layout und Lithografie hat Tine Hellwig zu verantworten, die selbst auch im Buch interviewt wird.

Es ist ein inklusives Buch, nicht nur was den Inhalt angeht, sondern auch die Herstellung. Verkaufsfertig wurden die 500 Exemplare in einer Behindertenwerkstatt gemacht und erhielten jeweils eine genähte Tasche, eingelegte Aufkleber, mit denen man gelesene Seiten markieren kann, und einen knallgrüner Schutzeinband. Es ist eine hochwertige Ausgabe geworden, was sich auch im Preis von 38,95 Euro widerspiegelt. Das ist genauso gedacht, wie Madadkar sagt: Die Botschaft des Buches ist so wichtig, das soll auch in der Gestaltung und der Verpackung deutlich werden.

Eigentlich plante Madadkar als Traumwerkervorsitzende, aus den Interviews und den Fotos der Befragten eine Ausstellung zu machen. Doch wegen Corona kam dies nicht zustande. Johannes Glötzner von den Gräfelfinger Gelegenheitsschreibern (GRÄGS), auch ein Interviewter, ermutigte sie, ein Buch daraus zu machen. Erst unsicher, ob sie das kann, floss ihr dann doch so einiges aus der Feder. Madakar hat zwischen den schweren Buchdeckeln alles zusammengetragen, was ihr zum Thema Inklusion am Herzen liegt.

Wie in so vielen Bereichen hat die Pandemie wie ein Brennglas gewirkt und Missstände aufgedeckt. Was die Inklusion angeht, wird deutlich, wie weit der Weg noch ist zu einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen, für die sich der Gräfelfinger Verein seit Jahren einsetzt. Diesen Missstand skizziert Madadkar in ihren Texten. Als nach dem ersten Lockdown Anfang Mai 2020 alle wieder arbeiten und sich treffen durften, blieben Menschen mit Behinderung weiter im Lockdown, erinnert Madadkar.

Ihre eigene Tochter konnte wie so viele nicht in ihrer Behindertenwerkstatt arbeiten, weil die Werkstätten wegen des Infektionsrisikos noch geschlossen waren. Auch in den vielen Wohnheimen gab es keinen normalen Betrieb. Es galten weiter Einschränkungen, die kein selbst bestimmtes Leben zuließen. "Hier tat sich eine Schere auf." Diese Situation wurde der Anstoß, die Interviews zu führen und auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung hinzuweisen.

Die Schere zeigte offensichtlich, dass die Gesellschaft keineswegs inklusiv ist, sondern Menschen nach wie vor "sortiert" werden, wie die Autorin kritisiert, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt: In Wohnheimen und Behindertenwerkstätten leben und arbeiten Menschen mit Behinderung unter sich, "alle vulnerablen Gruppen zusammenzufassen ist eine verkehrte Idee". Wenn einer sich ansteckt, trifft es gleich sehr viele vulnerable Personen. Ein eindrückliches Bild dieser Situation geben auch die Texte von Menschen im Buch wieder, die in Wohnheimen, Förderschulen und Behindertenwerkstätten arbeiten.

"Inklusion ist ein Menschenrecht"

Inklusion ernst zu nehmen, Silos aufzubrechen, in denen Menschen mit Behinderung lernen, arbeiten und wohnen, ist eine Mahnung, die aus dem Buch spricht. "Inklusion ist ein Menschenrecht", sagt Madadkar. Für sie ist klar: Wenn jeder den anderen besser versteht und sich in seine Lage hineinversetzen kann, dann gibt es eine größere Solidarität, mehr Gemeinschaftssinn und mit dem lässt sich auch eine Pandemie leichter bewältigen, weil der Weg zum Kompromiss und zur Rücksichtnahme geebnet ist.

Das Buch soll ein Beitrag dazu sein, sich gegenseitig besser zu verstehen. Damit ist das 190-Seiten-Werk auch ein politisches Buch geworden. Die Traumwerker wollen es an Menschen verschenken, die Dinge bewegen können, zum Beispiel endlich mehr Inklusion an Schulen zu wagen. Peter Köstler hat es als Gräfelfinger Bürgermeister (CSU) bereits erhalten. "Jetzt ist die Politik dran, etwas zu tun", findet Madadkar.

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