Inklusion in der Schule:Echte Wahlfreiheit

Inklusion in der Schule: Christian (rechts) vom Förderzentrum Unterhaching nähert sich in einer gemeinsamen Inklusions-Unterrichtsstunde mit der Grundschule in Sauerlach dem Buchstaben B an.

Christian (rechts) vom Förderzentrum Unterhaching nähert sich in einer gemeinsamen Inklusions-Unterrichtsstunde mit der Grundschule in Sauerlach dem Buchstaben B an.

(Foto: Sebastian Gabriel)

In Partnerklassen an der Grundschule Sauerlach lernen und spielen Buben und Mädchen mit und ohne Förderbedarf gemeinsam. Das Projekt soll ausgeweitet werden.

Von Irmengard Gnau, Sauerlach

Silwana tastet mit ihrer Hand unter die blaue Decke, die in der Mitte des Sitzkreises liegt. Als ihre Finger etwas erfühlen, hellt sich ihr Blick auf. Sie zieht ein Buch hervor. "Zeig' es bitte allen Kindern im Kreis", fordert Ingrid Speidel die Siebenjährige freundlich auf. Dreißig neugierige Kinderaugenpaare blicken aufmerksam, als Silwana ihren Fund in der Runde präsentiert. Sie legt das Buch neben einer Banane, einem Stoffbären, einem Brief, einer Tüte Salzbrezeln und einem Ball ab. "Wir sagen das Wort gemeinsam", ermuntert Lehrerin Speidel. "Buch" tönt es aus vielen Kehlen, dazu klatschen die Kinder in die Hände.

Inklusion in der Schule: Gemeinsames Lernen wird auch wortwörtlich groß geschrieben.

Gemeinsames Lernen wird auch wortwörtlich groß geschrieben.

(Foto: Sebastian Gabriel)
Inklusion in der Schule: Antonius wird von seinen Klassenkameraden beim Spielen beobachtet.

Antonius wird von seinen Klassenkameraden beim Spielen beobachtet.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Die Kinder der Klasse 1b an der Grundschule Sauerlach lernen heute den Buchstaben B. "Fängt dieser Gegenstand auch mit "B" an?", fragt Lehrerin Nicole Schächtele und hält einen Pinsel in die Höhe. Die Kinder lassen sich nicht täuschen: Bei einem "P" kommt doch viel mehr Luft aus dem Mund als bei einem weichen "B"! Gemeinsam malen alle den neuen Buchstaben in die Luft und auf den Rücken des Sitznachbarn. Dann teilen sich die Kinder in Zweierteams auf verschiedene Stationen auf, um das B mit allen Sinnen zu erkunden. Vit und Ferdinand formen bunte Knete zu Buchstaben, Janis und Antonia malen mit Kreide an die Tafel. Christian zeichnet mit seinem Finger in den Sand. Als der zweite Bauch des "B" nicht recht gelingen will, nimmt Ferdinand sanft seine Hand und führt sie.

So viel gemeinsam, wie möglich, so viel getrennt, wie nötig

An der Sauerlacher Grundschule können Kinder mit und ohne geistigen Förderbedarf gemeinsam lernen. Aktuell gibt es in der ersten und der dritten Jahrgangsstufe je eine Partnerklasse, die eng mit einer Schulklasse des Förderzentrums mit Schwerpunkt geistige Entwicklung in Unterhaching, kurz FZGE, zusammenarbeitet. Die acht Schülerinnen und Schüler vom FZGE sind die "Bären", die 25 Schülerinnen und Schüler der Sauerlacher Grundschule die "Tiger". Wo immer es sich anbietet - in Sport oder Sachkunde ebenso wie bei grundlegenden Inhalten - legen Klassenlehrerin Nicole Schächtele und Sonderpädagogin Ingrid Speidel ihren Unterricht zusammen, nach dem Prinzip: So viel gemeinsam, wie möglich, so viel getrennt, wie nötig.

Inklusion in der Schule: Für Astrid Langwieder (links), Rektorin der Grundschule Sauerlach, und Ricarda Friderichs vom Förderzentrum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Unterhaching ist das Projekt ein Erfolgsmodell.

Für Astrid Langwieder (links), Rektorin der Grundschule Sauerlach, und Ricarda Friderichs vom Förderzentrum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Unterhaching ist das Projekt ein Erfolgsmodell.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Die Grundschule und das Förderzentrum arbeiten schon seit sieben Jahren erfolgreich zusammen. Nach ersten Kooperationsprojekten und einem gemeinsamen Schullandheimbesuch startete zum Schuljahr 2015/16 die erste Partnerklasse. Die beiden Schulleiterinnen, Astrid Langwieder in Sauerlach und Ricarda Friderichs am Förderzentrum in Unterhaching, sind von dem Projekt überzeugt. "Die Grenzen, die die Gesellschaft zieht zwischen Menschen mit und ohne Förderbedarf oder Behinderung, kennen Kinder nicht", sagt Friderichs. "Für die geht es darum: Wen mag ich, mit wem kann ich gut spielen? Dass der eine vielleicht besser balancieren oder lesen kann als der andere, das spielt keine große Rolle."

Eltern sollen sich vor dem Schulübertritt beraten lassen

Das Recht darauf, dass alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Möglichkeiten gemeinsam zur Schule gehen dürfen, liegt in der UN-Behindertenrechtskonvention begründet. 2011 wurde auch das bayerische Gesetz zum Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) daraufhin angepasst - seither hat jedes Kind das Recht auf Inklusion in der Schule, und zwar in einer Form seiner Wahl. Artikel 30a legt fest, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf "nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulart" begründet. Vielmehr können Schülerinnen und Schüler "gemeinsam in Schulen aller Schularten unterrichtet werden".

Für Friderichs ist das ein großer Gewinn: "Die Eltern haben so eine echte Wahlfreiheit." Sie können entscheiden, ob ihr Kind lieber eine spezielle Fördereinrichtung wie das FZGE besuchen oder in eine Regelschule am Ort gehen soll, wo es einen Einzelinklusionsplatz bekommt und durch mobile sonderpädagogische Dienste unterstützt wird. Einige Schulen haben ihr Profil im Bereich Inklusion besonders geschärft, dort gehören Lehrkräfte für Sonderpädagogik fest zum Kollegium. Vor dem Schulübertritt ihres Kindes sollten Eltern sich ausgiebig beraten lassen, rät Friderichs. "Es gibt viele Erfolgsgeschichten aus der Einzelinklusion, es gibt viele Erfolgsgeschichten aus Förderzentren, es gibt viele Erfolgsgeschichten aus Partnerklassen", sagt Friderichs. Die Eltern wüssten meist am besten, was der richtige Weg für ihr Kind ist.

Inklusion in der Schule: Niemand soll in den Unterrichtsstunden zu kurz kommen und jeder nach seinen Bedürfnissen betreut werden.

Niemand soll in den Unterrichtsstunden zu kurz kommen und jeder nach seinen Bedürfnissen betreut werden.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Für die "Bären" und "Tiger" in Sauerlach ist das gemeinsame Lernen ein Gewinn, sind die Beteiligten überzeugt. Solche Partnerklassen zu organisieren, fordert aber viel Einsatz. Die Kostenträger und Behörden müssen gewonnen werden, es braucht geeignete Räume und Pädagoginnen, die sich für das Konzept begeistern. Bei Eltern kann es durchaus Berührungsängste geben gegenüber dem inklusiven Konzept. Deshalb binde man diese von Anfang an ein, sagt Rektorin Langwieder. Vor der Klassenbildung wird abgefragt, wer sich die Partnerklasse für sein Kind wünscht. "Die Kinder in den Partnerklassen lernen in besonderem Maße soziale Kompetenz und bauen Berührungsängste ab", sagt sie. Mögliche Befürchtungen, das Leistungsniveau oder die Übertrittsquote ans Gymnasium könne sich durch den inklusiven Unterricht verschlechtern, kann die Schulleiterin nicht bestätigen.

Seit dem Herbst können Tiger und Bären auch nach Schulende gemeinsam spielen: Mit Unterstützung der Nachbarschaftshilfe Sauerlach bieten die Grundschule und das Förderzentrum nun auch einen inklusiven offenen Ganztag für die Schüler der Partnerklassen an. Es ist das erste Angebot dieser Art im Landkreis. Viel Neuland für alle Beteiligten. Doch nach den ersten Monaten ziehen die Beteiligten in Sauerlach ein positives Zwischenfazit. Friderichs und Langwieder haben sogar schon die nächste Vision: Sie wollen die Inklusion auch an den weiterführenden Schulen im Landkreis stärken.

Eltern aus dem Landkreis München können sich vor der Einschulung ihres Kindes mit Förderbedarf über die verschiedenen Möglichkeiten bei der Inklusionsberatung am Staatlichen Schulamt im Landkreis München (Chiemgaustraße 109, München) unter Telefon 089/62 21 17 62 oder E-Mail inklusionsberatung@lra-m.bayern.de informieren. Auch die Beratungsstelle am Förderzentrum Schwerpunkt geistige Entwicklung in Unterhaching, Telefon 089/66 50 99 601, E-Mail: verwaltung@fzge-unterhaching.de berät bei allen Fragen.

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