Süddeutsche Zeitung

Kreis und quer:Ihr Kinderlein kommet...

Wieder sollen es die Jüngsten richten: Weil nicht genügend Erwachsene bereit sind, werden Kinder und Jugendliche zur Impfung gerufen.

Von Sabine Wejsada

Draußen fallen leise die Flocken, überall glitzern Christbäume und Adventsbeleuchtung. Drinnen duftet es nach Zimtsternen und Spekulatius. Die stade oder heuer wegen der Pandemie eher fade Zeit hat längst begonnen, es ist nicht mehr weit bis Weihnachten. Keine zwei Wochen noch - dann ist endlich Bescherung. Dass sie heuer das zweite Mal in Folge eine, im ironischen Sinne, "schöne" wird, steht zu befürchten. Wegen der nach wie vor prekären Corona-Lage muss das Weihnachtsfest erneut in abgespeckter Form stattfinden, im schlimmsten Fall mit Maske im Gesicht und Meterstab in der Hand zur Einhaltung von Sicherheitsabständen, was sich vor einem Jahr vermutlich niemand hat ausmalen wollen. Doch Sars-CoV-2 kennt einfach kein Erbarmen, wie uns die Pandemie seit fast zwei Jahren lehrt.

Corona macht, was es will - egal, ob wir jubilieren oder deprimiert in der Ecke sitzen, weil Christkindlmärkte und Weihnachtsfeiern abgesagt werden mussten. Da könnte es sich als wohltuend erweisen, dass zumindest musikalisch fast alles beim Alten bleibt, wenn auch aus aerosoltechnischer Sicht vom gemeinsamen Singen unter der geschmückten Tanne im Wohnzimmer abgeraten werden muss. "O du fröhliche" oder "Leise rieselt der Schnee" lassen sich gut aus der Konserve hören und leise mitsummen. Einem anderen berühmten Weihnachtslied aber könnte in Zeiten wie diesen eine neue Bedeutung zukommen: "Ihr Kinderlein kommet".

Im Originaltext des katholischen Pfarrers Christoph Schmid aus dem 18. Jahrhundert sollen sich die Kinder auf den Weg machen zur Krippe in Bethlehems Stall, um zu sehen, was in dieser hochheiligen Nacht "der Vater im Himmel für Freude uns macht". Angesichts dessen, dass von nächster Woche an Fünf- bis Zwölfjährige auch in den drei Impfzentren des Landkreises München ihre Spritzen gegen das Coronavirus erhalten sollen, lassen sich die Reime leicht uminterpretieren. Die aktuelle Botschaft lautet: Ihr Kinderlein kommt und bitte zuhauf, um den massiv stotternden Impfturbo zu beschleunigen, nachdem zu wenige Erwachsene ihren Kopf einschalten und ihrer solidarischen Verpflichtung zur Impfung nachkommen.

Offenbar müssen es wieder die Jüngsten richten. Wie so oft, möchte man sagen beim Blick zurück. Zu Beginn der Pandemie im März 2020 mussten Kinder und Jugendliche monatelang daheim hocken, weil Kitas und Schulen geschlossen wurden, um die Älteren zu schützen. Voriges Weihnachten fielen die Besuche von Oma und Opa flach, weil die Inzidenzen für damalige Verhältnisse durch die Decke gingen und es noch keinen Impfstoff gab. Jetzt, ein Jahr später, da sich alle, bei denen keine medizinische Indikation dagegen spricht, bereits hätten immunisieren lassen können, aber es nicht getan haben, droht wieder eine stille Nacht. Und so stellt sich ganz laut die Frage: Wo bleibt sie eigentlich, die Solidarität mit der Generation Corona?

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