Süddeutsche Zeitung

Illegale in München:Die im Schatten sieht man nicht

In München leben Zehntausende Menschen ohne gesicherten Status: Margret Spohn von der Stelle für interkulturelle Arbeit erklärt, wie sich die Stadt um diese Bürger kümmert.

Andrea Schlaier

Zehn Jahre ist es her, dass der Münchner Stadtrat sich ein Herz nahm: Er beauftragte den Sozialwissenschaftler Philip Anderson, eine Studie über die Lebenssituation von Menschen zu verfassen, die sich illegal in München aufhalten. Titel: "Damit Sie uns nicht vergessen...". Keine andere westdeutsche Großstadt hatte sich das bis dahin getraut. Verwaltung und etliche Institutionen entwickelten in der Folge ein komplexes Beratungs- und Hilfsangebot für Menschen ohne Status. Ende September 2010 stützte der Stadtrat den mittlerweile praktizierten Modus Vivendi mit dem empathisch überschriebenen Beschluss: "Wir haben Sie nicht vergessen...". Margret Spohn von der Stelle für interkulturelle Arbeit sprach mit Andrea Schlaier über das erfolgreiche "Münchner Modell", das mittlerweile in der ganzen Republik kopiert wird .

SZ: Philip Anderson hat in seiner Studie von bis zu 30.000 Menschen ohne gesicherten Status in München gesprochen. Die Zahl war stets umstritten. Weiß man inzwischen, wie viele es tatsächlich sind?

Margret Spohn: Wir haben keine Zahlen. Eines der Merkmale von Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ist, dass sie alles versuchen, unentdeckt zu bleiben. Anderson hatte 2003 mit vielen Einrichtungen, Kirchen und auch Betroffenen gesprochen und ist auf Grund dieser Schätzungen und eigener Hochrechnungen zu diesen Zahlen gekommen. Durch die EU-Osterweiterung hat sich der Aufenthalt vieler Menschen, die noch vor zehn Jahren als "Illegale" galten, legalisiert.

SZ: Die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt statusloser Migranten gilt politisch als Minenfeld. Warum wagte München, dieses zu betreten?

Spohn: Für keine Kommune ist es ein Geheimnis, dass Menschen ohne Status dort leben. Es gibt jedoch Rechte, die jedem Menschen unabhängig von seinem rechtlichen Status zustehen. Es darf nicht sein, dass in einer Stadt wie München Menschen eventuell sterben müssen, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Notfallversorgung haben. Es ist auch bekannt, dass es viele Frauen gibt, die für die Sexindustrie nach Deutschland gelockt wurden und unter furchtbarsten Bedingungen leben. Der Stadtrat wollte Aufschluss über diese Lebensbedingungen und wissen, was eine Kommune im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten und getreu ihrem humanitären Anspruch tun könnte.

SZ: Wie wichtig war es, sich Verbündete zu suchen?

Spohn: Von Beginn an hat ein Begleitgremium Philip Anderson zur Seite gestanden mit Vertretern von städtischen Referaten, Nichtregierungsorganisationen, Polizei, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen. Gesprächsinhalte blieben innerhalb des Arbeitskreises. Der Stelle für interkulturelle Arbeit oblag die Koordination. Wir wollten keine Studie, die anschließend im Giftschrank verschwindet, sondern eine Grundlage für eine vernünftige humanitäre Arbeit. Alle sollten sich mit der Zielrichtung identifizieren können.

SZ: Gibt es dieses Gremium noch?

Spohn: Nachdem die Studie abgeschlossen war, die Empfehlungen auf dem Tisch lagen, wollten wir diesen Kreis eigentlich auflösen - aber die Mitglieder sprachen sich dagegen aus. Die Runde, die heute vom Referat für Gesundheit und Umwelt und der Stelle für interkulturelle Arbeit gemeinsam geleitet wird, hat sich zu einer Informationsbörse entwickelt. Neue gesetzliche Entwicklungen werden hier vorgestellt und debattiert, schwierige Einzelschicksale besprochen und nach Lösungen gesucht.

SZ: Wie taktisch sind Sie vorgegangen? Bei medizinischer Hilfe war nicht von Illegalen, sondern von Menschen ohne Krankenversicherung die Rede.

Spohn: Das war nicht nur ein taktischer Schachzug, sondern entspricht der derzeitigen Realität! Unser Ziel war es, dass sehr kranken Menschen in München, die über keinen Versicherungsschutz verfügen, geholfen werden kann. Dazu zählen auch deutsche Selbständige, die zum Beispiel nach einem Einbruch ihres Geschäfts die Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen können, Studentinnen aus den neuen Beitrittsstaaten, die erst in der Schwangerschaft entdecken, dass ihr Versicherungsschutz unzureichend ist, oder eben Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Zu sagen: "Wir versorgen nur Illegale" wäre schlicht falsch. Das zeigen auch die Zahlen der Anlaufstellen Café 104/Ärzte der Welt und der Malteser Migranten Medizin.

SZ: Wie sieht deren Arbeit aus?

Spohn: Sie unterscheidet sich nicht von denen anderer Notfallpraxen. Allerdings kommen die meisten Patienten erst, wenn die Krankheiten weit fortgeschritten sind. Von den 750 Patienten, die die Malteser seit Juli 2006 behandelt haben, sind zehn Prozent illegal hier. Zu Café 104/ Ärzte der Welt kamen 2009 insgesamt 330 Kranke, 16 Prozent ohne Papiere.

SZ: Steht man als Verwaltung nicht selbst mit einem Bein in der Illegalität beim Versuch, Illegalen zu helfen?

Spohn: Für das Münchner Modell trifft dies nicht zu. Es verbindet medizinische Notfallhilfe mit intensiver Beratung, deren Ziel es immer ist, für den Betroffenen Wege aus der Illegalität aufzuzeigen oder eine menschenwürdige Ausreise in das Herkunftsland zu ermöglichen. Die Stadt würde nichts tun, was nicht im Rahmen der Gesetzgebung abgedeckt ist. Jede Kommune kann ebenso handeln.

SZ: Wie hat sich die Arbeit in der Praxis durch die veränderten Rahmenbedingungen geändert?

Spohn: Die Abläufe sind klar strukturiert. Schwangere Frauen ohne gesicherten Aufenthalt erhalten zum Beispiel drei Monate vor und drei Monate nach der Geburt eine Duldung. Dadurch können lebenswichtige Untersuchungen durchgeführt werden. Das Kind erhält eine Geburtsurkunde, und auch die Nachversorgung ist gesichert. Gibt es einen komplizierten Fall, wissen die Anlaufstellen, wen sie anrufen können.

SZ: Und in anderen Lebensbereichen?

Spohn: Kinder sind schulpflichtig - unabhängig von ihrem jeweiligen Aufenthaltstitel oder dem der Eltern. Das gesamte Schulpersonal hat nicht die Pflicht, den Status eines Kinder weiterzumelden. Helfer, etwa in Beratungsstellen, müssen nicht mehr fürchten, durch ihren humanitären Einsatz strafrechtlich verfolgt zu werden. Schwieriger ist die Situation noch vor den Arbeitsgerichten. Auch Menschen, die ohne Papiere arbeiten, dürfen nicht um ihren Lohn geprellt werden. Der Weg zu den Arbeitsgerichten steht ihnen offen. Allerdings kann es hier passieren, dass ihre Daten weitergegeben werden, was viele abschreckt.

SZ: Wie werden die helfenden Einrichtungen von der Stadt unterstützt?

Spohn: Finanziell durch den jährlichen Notfalltopf in Höhe von 100.000 Euro. Praktisch durch die direkte Hilfe in Form der Hotline, die im Kreisverwaltungs- und Sozialreferat angesiedelt ist. Alle Mitglieder der Gesprächsrunde können hier wegen Einzelfällen auf Leitungsebene anrufen. Im Sozialreferat hilft man etwa bei der Finanzierung medizinischer Kosten, im KVR, wenn Kranke den Aufenthalt klären möchten. Lässt sich keine Regelung herbeiführen, geht der Anruf ins Amt für Wohnen und Migration, mit dessen Unterstützung eine Ausreise vorbereitet werden kann. Es gibt etwa zwei Dutzend Rückkehrfälle im Jahr.

SZ: Wie kann sich ein öffentlicher Gesundheitsdienst diese Unterstützung leisten?

Spohn: Kann sich der öffentliche Gesundheitsdienst leisten, dass Kranke mit einer nicht behandelten und offenen TBC durch die Gegend fahren und massenhaft Menschen anstecken, die dann durch die öffentlichen Kassen behandelt werden?

SZ: Warum tut man sich in München leichter, eine solche Studie umzusetzen, als in anderen Kommunen?

Spohn: Durch ein Referate übergreifendes Miteinander, einen mutigen Stadtrat, durch eine Kultur des Respekts und durch eine eindeutige Klärung der Rechtslage, die allen Sicherheit im Handeln gibt.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2010/isa
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