Süddeutsche Zeitung

Unfall in Hohenbrunn:Trampelpfad ins Unglück

Vier junge Menschen werden binnen weniger Jahre an derselben Stelle zwischen Ottobrunn und Hohenbrunn von einer S-Bahn erfasst und sterben - zuletzt am vergangenen Freitag. Doch bisher scheitern alle Bemühungen für einen sicheren Schienenübergang.

Von Angela Boschert, Hohenbrunn/Höhenkirchen

Auch ein paar Tage danach ist die Ratlosigkeit in Hohenbrunn und Höhenkirchen groß. Wie konnte es passieren, dass ein Schüler am Freitagabend zwischen Hohenbrunn und Ottobrunn von einer S-Bahn überfahren wurde? Und wie kann verhindert werden, dass Gleiches wieder passiert? Es ist nämlich nicht das erste Unglück an dieser nur eingleisigen Strecke. In den vergangenen fünf Jahren sind bereits drei weitere junge Menschen hier im Bereich der S-Bahn ums Leben gekommen.

Torsten Bergmühl spricht nüchtern und besonnen am Telefon. Obwohl seit Montag alles anders ist an der Erich-Kästner-Mittelschule in Höhenkirchen-Siegertsbrunn, die der verunglückte 15-Jährige besuchte, ist der Rektor bemüht, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Er selbst habe schon am Wochenende das Kriseninterventionsteam zusammengerufen und einen Trauerraum mit Kerzen, Kondolenzbuch und Foto des Jugendlichen in der Schule eingerichtet; Montagfrüh vor 7 Uhr traf sich das Lehrerkollegium dann zu einer Konferenz, um "die Schüler vorbereitet in Empfang zu nehmen und ein betreutes Ankommen zu garantieren", wie Bergmühl es nennt.

In das Kondolenzbuch haben bis Dienstag viele Mitschüler ihre Gedanken eingetragen. Dabei waren sie nicht allein. Immer seien Sozialarbeiter der Schule, die Schulseelsorgerin oder Mitglieder des Interventionsteams dabei gewesen.

Auf die Frage nach dem Warum hat auch Bergmühl keine Antwort. Bekannt ist bisher nur, dass eine Gruppe von zehn bis 15 Jugendlichen sich an den Bahngleisen getroffen hatte und der Mittelschüler auf einmal die Gleise überqueren wollte, um auszutreten. Ob Alkohol im Spiel war, ist nicht bestätigt, aber möglich. Die Gruppe soll einen Geburtstag gefeiert haben. Jedenfalls fahren die Züge an dieser Stelle, die zwischen den Bahnhöfen Ottobrunn und Hohenbrunn liegt, mit hoher Geschwindigkeit. Das gilt für die meisten auch an diesem Nachmittag. Eine Gruppe von zehn Jugendlichen sitzt um das Holzkreuz und die Kerzen, die Freunde am Bahndamm aufgestellt haben, als ein Zug in hohem Tempo vorbei rauscht. Die Haare der jungen Leute wehen im Fahrtwind. Ihre Räder liegen im abgemähten Feld. Jemand hat ein blaues Halstuch mit weißem Muster am Kreuz befestigt, andere zwei Aufkleber. Die Jungen und Mädchen reden, dann schweigen sie und starren ins Leere.

Blickt man nach Norden, erkennt man, wie hinter dem Ortsschild von Hohenbrunn-Riemerling immer wieder Menschen die Gleise überqueren, obgleich es keinen Übergang gibt. Vielmehr steht dort ein Durchfahrt-verboten-Schild mit rotem Rand. Die Aufschrift "Überschreiten der Gleise ohne Erlaubnis verboten" ist völlig ausgeblichen.

Im Ort ist bekannt, dass viele Fußgänger hier das Gleis überqueren. Den ausgetretenen Trampelpfad kann man selbst auf Google Earth deutlich erkennen. Der Kies an den Schwellen der Gleise ist hell und frisch erneuert und trotzdem schon niedergetreten. Die nächste Unterführung liegt knapp einen Kilometer entfernt, da nehmen viele die Abkürzung übers Gleis.

Hier gehöre eine ordentliche Querungsmöglichkeit hin, sagen Anwohner. Die Hohenbrunner Wählervereinigung Bürgerforum hat zuletzt im April 2015 die Prüfung eines "abgesicherten Fuß- und Radwegs" im Bereich Pfarrer Siebenhärl-Weg und Hohenbrunner Straße" gefordert und einen Vorschlag vorgelegt. Doch es habe kein Ergebnis gegeben, sagt die heutige Vorsitzende Pauline Miller. "Die Bahn will keinen ebenerdigen Übergang, weil sie dann die Haftung hat", sagt sie und fügt an: "Wenn das jetzt nicht ein Zeichen ist, wann dann?" Mit dem 15-Jährigen aus Höhenkirchen sind bereits vier junge Menschen in den vergangenen fünf Jahren auf dieser Strecke von Zügen erfasst und getötet worden.

Zumindest eine Unterführung mit Treppen parallel zu den Gleisen müsse man doch schaffen können, findet Miller. "Es sollte etwas getan werden, aber das sollte dann gut gemacht werden", stimmt ihr Wolfgang Schmidhuber, der Fraktionssprecher der Grünen im Hohenbrunner Gemeinderat, zu, betont aber, dass die technischen Schwierigkeiten "enorm" seien. Ein barrierefreier Übergang brauche sehr viel Platz, die Kurvenradien müssten auch für Fahrräder mit Kinderanhänger ausreichen und die Rampe müsse flach sein. "Sonst wuchten die Radler weiterhin ihre Räder über die Gleise", warnt Schmidhuber. Doch eine gerade Fläche ist hier nicht vorhanden, die Hohenbrunner Straße verläuft dicht neben den Gleisen. Auch darf eine Unterführung nicht einem zweigleisigen Ausbau der Strecke im Weg stehen, für den die Gemeinden im Münchner Südosten seit Jahren kämpfen.

Hohenbrunns Bürgermeister Stefan Straßmair (CSU) verweist auf die Bahn: Diese wolle keinen ebenerdigen Übergang mit Signalanlage. Bei einer Unterführung wiederum müssten die Gleise sowie die Hohenbrunner Straße unterquert und der Radweg angeschlossen werden. "Das ist ungeheuer komplex", so der Rathauschef. Eine vollkommene Lösung wäre seiner Meinung nach, die S-Bahn von Neubiberg bis mindestens zur Unfallstelle tiefer zu legen. Dadurch würde viel Platz gewonnen, wie in Ismaning und Unterföhring. Ottobrunn, so Straßmair, könne davon profitieren. "Das einzige, was schnell ginge, ist ein Zaun entlang der Gleise", sagt Straßmair. "Damit trennt man allerdings die Ortsteile noch weiter voneinander."

Die Bahn äußert sich zu alldem nicht. Ein Sprecher sagte am Dienstag nur: "Jeder Unfall ist einer zu viel." Doch es gelte eben auch: "Es ist verboten, Bahnanlagen zu betreten."

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SZ vom 23.09.2020/hilb
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