Süddeutsche Zeitung

Neues Buch über Hohenbrunn:Alltag im NS-Musterdorf

Arbeitskreis beleuchtet die Geschichte der Nazizeit in Hohenbrunn - was die Menschen von den Verbrechen mitbekamen und wie sie sich dazu verhielten.

Von Christina Hertel, Hohenbrunn

"Der erste Panzer blieb vor unserem Haus stehen und drehte seine Kanone in Richtung unseres Hauses. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Mama eilte ins Haus, in den ersten Stock, und schmiss ein Betttuch über den Balkon - und gut war's." So erlebte Gabriele Langmack das Ende des Zweiten Weltkriegs in Hohenbrunn. Sie erinnert sich daran, wie damals Anfang Mai vor etwa 70 Jahren der Winter einbrach, die Blumen von einer weißen Schneedecke überzogen waren. Wie die Amerikaner ihre offenen Jeeps mit Decken behängten, um sich vor der Kälte zu schützen. Festgehalten und eingeordnet sind Erinnerungen wie diese in einem neuen Buch. "Hohenbrunn im Nationalsozialismus" heißt es. Am Freitagabend wird es zum ersten Mal öffentlich präsentiert.

Das Werk beleuchtet nicht nur das Ende des Krieges, sondern vor allem die Jahre davor - während des Naziregimes von 1933 bis 1945. Wie verhielten sich die Hohenbrunner in dieser Zeit? Gab es viele überzeugte Nazis? Gab es Widerstand? Oder arrangierten sich alle in dem System? Was haben die Menschen gewusst - etwa von der Munitionsfabrik, in der vor allem viele Menschen aus der Ukraine und Polen als Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden? Das Buch, das der Historiker Florian Wimmer begann, und das seine Kollegin Annemone Christians nach seinem plötzlichen Tod fertigstellte, versucht Antworten auf diese Fragen zu geben.

Die Idee für das Projekt hatte der Pfarrer Christoph Nobs, der inzwischen nicht mehr in Hohenbrunn lebt. Ihn störte, dass in beiden Ortschroniken, die bis dahin erschienen waren, die Jahre 1933 bis 1945 völlig ausgeklammert wurden. Diese Lücke wollte der Pfarrer schließen und rief vor vier Jahren einen Arbeitskreis ins Leben, der am Ende allerdings nur noch aus drei Mitgliedern bestand: Claudia Engmann, Martina Kreder-Strugalla und Rudolf Wenzel. Sie sichteten Archive, sammelten Krankenakten und Gerichtsurteile, interviewten Zeitzeugen.

Der Maibaum wurde verteidigt, das Leid der Zwangsarbeiter ausgeblendet

Echten Widerstand gab es in Hohenbrunn nicht. Doch verborgen blieben den Bürgern die Praktiken der Nationalsozialisten offenbar auch nicht. Zum Beispiel wurden auch Hohenbrunner Bürger Opfer des "Euthanasie-Programms", wie die Nationalsozialisten die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten nannten. Andreas F. etwa wurde, obwohl sich seine Familie dagegen wehrte, in der Anstalt Eglfing-Haar sterilisiert. Ärzte hatten bei ihm Schizophrenie diagnostiziert. Nachdem ein Anstaltsarzt urteilte, dass er zur Arbeit nicht mehr zu gebrauchen sei, wurde er in das so genannte "Hungerhaus" verlegt, wo er mit 38 Jahren starb. Helene und Leonhard Sigl erinnern sich: "Der war in Haar und eines Tages war er gestorben. War überhaupt nicht so krank. Aber da hat sich doch keiner was dagegen sagen trauen. Man hat gewusst, man darf nicht aufmucken. Man hat unter der Hand etwas gemault, aber da hätte jetzt keiner gesagt: Du, Bürgermeister, warum hast du dich da nicht gekümmert?"

Wenn es um das Brauchtum ging, wollten sich die Bürger allerdings nicht anpassen. Sie weigerten sich, ihren weiß-blauen Maibaum zu entfernen, der damals eigentlich nur noch weiß sein durfte mit einem Reichsadler an der Spitze. Höhenkirchner SA-Männer kamen eines Nachts und wollten den Baum umsägen. Der Burschenverein bemerkte das. Es kam zu einer Schlägerei, bei der ein Hohenbrunner einen Arm verlor. Doch am Ende nützte es nichts. Auch in Hohenbrunn wurden schließlich weiße Maibäume aufgestellt. Diese Episode gilt als belegt. Anderes lässt sich nicht mehr vollständig klären. Zum Beispiel, wie verstrickt der damalige Bürgermeister Kaspar Berger in das Naziregime war. Zeitzeugen berichten, dass er beim Hitlerputsch 1923 dabei gewesen sei und dafür den sogenannten "Blutorden" erhalten haben soll. Ein Enkel bestreitet das. Sein Großvater soll aber die Gewehre und die Hakenkreuzfahnen, die Hitlers Anhänger bei dem Putsch trugen, auf seinem Hof versteckt haben.

Weder das eine noch das andere lässt sich mehr beweisen. Als sicher gilt aber, dass sich Berger für eine Bewerbung Hohenbrunns als nationalsozialistisches "Musterdorf" einsetzte. Damals wurden in Wettbewerben Dörfer ausgezeichnet, um den Tourismus voranzutreiben. Sie mussten sauber sein, regionaltypische Fassaden und historische Ladenschilder haben. Dafür wurden diese Dörfer gefördert. Hohenbrunn bekam zum Beispiel 1937 eine neue Wasserversorgung. Die Maßnahme könnte, wie die Verfasser schreiben, mit der Teilnahme an dem Wettbewerb zusammengehangen haben. Die Hauptpreise gingen jedoch an andere Gemeinden, etwa Lindau am Bodensee. Nach Kriegsende wurde Bürgermeister Berger als "Mitläufer" des nationalsozialistischen Regimes beurteilt. Eine Strafe bekam er nicht.

Annemone Christians und Florian Wimmer schildern in ihrem Buch auch das Verhältnis zwischen der Munitionsfabrik, der Muna, und dem Dorf. Sie beschreiben, wie auf der einen Seite örtliche Betriebe, Metzgerei und Bäckerei, durch den neuen Kunden profitierten. Und wie andererseits der Krieg und die Angst präsenter wurden.

"Am Bahnhof standen immer die voll beladenen Züge aus der Munitionsfabrik. Die Angst, dass einmal ein solcher Zug in die Luft fliegt, wenn er bombardiert wird, war immer da", erinnert sich Gabriele Langmack, die 1928 geboren wurde. Verborgen konnten den Bürgern auch die vielen Zwangsarbeiter in der Munitionsfabrik nicht bleiben. Die Männer und Frauen, meist aus Osteuropa, mussten dort die schwersten und gesundheitsschädlichsten Arbeiten verrichten. Viele starben vor Hunger und Entkräftung. Doch offenbar wollten viele Bürger dieses Leid nicht sehen, so wie Anna Fischhaber, die in der Verwaltung der Muna arbeitete: "Wie die dort gelebt haben, habe ich eigentlich weniger mitgekriegt. Und von den Ausländerbaracken weiß ich gar nichts. Wo die genau waren, darüber hatte ich keine Vorstellung, das hat mich auch nicht interessiert."

Der Arbeitskreis präsentiert das Buch am Freitag, 24. März, von 18 Uhr an im Pfarrsaal St. Stephanus.

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Quelle:
SZ vom 24.03.2017/hilb
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