Die Wehmut ist nicht zu überhören. Horst Wiedemann, mit 91 Jahren das älteste Mitglied eines Stadtrats in Bayern, nimmt Abschied. Am Tag vor seiner letzten Sitzung im Haarer Stadtrat wartet er zu Hause darauf, dass ihn seine Enkelin in die letzte Fraktionssitzung mit seiner SPD fährt. Eine Dreiviertelstunde ist Zeit für ein Telefon-Interview. Gerade genug, um auf 50 Jahre Kommunalpolitik zurückzuschauen. Wie war das damals? Was hat sich verändert? Was sollen junge Menschen beherzigen, die ein Mandat anstreben? Immerhin wird bald gewählt.
SZ: Herr Wiedemann, Respekt. Sie wurden am 11. Juni 1972 in den Gemeinderat gewählt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Horst Wiedemann: Eigentlich bin ich seit 1966 in der Kommunalpolitik, weil ich da das erste Mal kandidiert habe.
Sie haben mal drei Jahre ausgesetzt und kommen fast auf den Tag auf 50 Jahre Arbeit in kommunalen Gremien. Haben Sie die Stunden in den Sitzungen gezählt?
Es hat mal jemand ausgerechnet, dass es 2000 Sitzungen gewesen sein müssen. Bei zwei Stunden pro Sitzung im Schnitt kommt was zusammen.
Was waren 1972 die Aufgaben in Haar?
Die Großsiedlung im Jagdfeldring wurde gerade fertig und die Frage war, wie wir 6000 neue Mitbürger integrieren.
Bei wie vielen Einwohnern?
Auch so um die 6000.
Eine Verdopplung. Das ist ja unglaublich.
Ja, das war eine sehr große Aufgabe.
Sie waren stellvertretender Schulleiter am Gymnasium in Grafing. Man brauchte Schulen. Das wurde ihr Thema.
Ja, schon 1967 war ich Gründungsmitglied des Vereins weiterführende Schulen im Osten von München. Diesem Verein ist es gelungen, zwei Gymnasien zwischen Grafing und dem Maria-Theresia-Gymnasium am Regerplatz in München zu gründen. Zu unserem großen Ärger ist Vaterstetten 1971 drangekommen, und nicht Haar. Wir haben Druck gemacht. Und 1972 kam Haar zum Zug.
Wie ging es damals zu im Gemeinderat? Wurde noch geraucht?
Das nicht mehr, aber der Sitzungsraum war ein kleines Zimmer. Wir sind richtig aufeinander gehockt, und es wurde scharf diskutiert. Dann ist die Sache mit dem damaligen Bürgermeister Willy Träutlein ins Rollen gekommen, der aus der SPD ausgetreten ist. Das hat uns enorm Stimmen gekostet.

Es waren die Siebzigerjahre. Die SPD war damals stark in Haar, in München, im Bund.
Es waren andere Zeiten. Der Neoliberalismus richtet großen Schaden an. Alle arbeiten heute in die eigene Tasche. Das habe ich noch ein bisschen anders erlebt.
Die Parteien haben Probleme, Nachwuchs zu finden.
Es ist furchtbar. Die jungen Leute sind stark im Beruf eingespannt. Auch in den Vereinen fehlt der Nachwuchs. Das Interesse hat abgenommen, sich zu engagieren. Die jungen Menschen sind heute desillusioniert. Ich kann bloß meinen Enkel zitieren, der sagt, man habe keine Zukunft mehr. Ich glaube, dass daraus Politikverdrossenheit entsteht. Ich bin ein glühender Verfechter der sozialen Marktwirtschaft. Das habe ich meinen Schülern auch so unterrichtet.
Und Sie haben im Gemeinderat für Ihre Themen gekämpft?
Das war wie heute. Wenn wir als SPD etwas durchsetzen wollten, mussten wir heftig diskutieren. 1978 ging es um die Ortsmitte, und darum, wo das neue Rathaus stehen soll. Wir waren damals als SPD plötzlich in der Minderheit. Und die CSU wollte alles anders machen, ganz anders.
Aber die CSU will es immer anders machen als die SPD.
Ja freilich, heute auch wieder. Wir sind in derselben Situation wie 1978.
Also damals wollte die CSU das neue Rathaus an die B304 setzen, die SPD nicht. Was ist heute der Streitpunkt?
Zum Beispiel, dass der Wieselweg zugebaut wird.

Sie meinen den neuen Kindergarten auf der Freizeitfläche.
Ich habe auch für das Gewerbegebiet auf der Finckwiese gestimmt, obwohl es in der Seele weh tut. Wir brauchen Gewerbesteuer, es hilft nichts. Aber Haar ist noch eine grüne Stadt. Das müssen wir bewahren.
Überzeugen Sie mal jemanden, sich heute für ein Mandat aufzustellen.
Ich habe in der Politik schöne Zeiten erlebt und die Erfahrung gemacht, dass man sehr viel bewegen kann. Haar würde heute anders aussehen, wenn früher andere Entscheidungen getroffen worden wären. Ich habe das Glück gehabt, als ich um 2000 herum Fraktionsvorsitzender war, auf der anderen Seite bei der CSU Hans Stießberger zu haben. Es war eine prima Zusammenarbeit. Damals schon haben wir die Stadterhebung angeschoben.
Die kam dann 25 Jahre später unter dem jetzigen CSU-Bürgermeister. Sie scheiden aus als Stadtrat. Stimmt Sie das traurig?
Ja, natürlich, es ist ein komisches Gefühl, wenn du 50 Jahre dein Leben darauf ausgerichtet hast. Ich war immer aktiv und habe mit meiner Frau die Volkshochschule aufgebaut, die Musikschule und eine der ersten Mittagsbetreuungen in Bayern. Als Vorsitzender der Bayerischen Wirtschaftsphilologen habe ich mit dem Ministerium gerungen und mit Kollegen Lehrbücher geschrieben für Wirtschaft und Recht. Davon haben wir fast 500 000 verkauft.
Spielen Sie eigentlich noch Tennis?
Leider nicht. Mit den Augen und mit den Beinen geht es nicht mehr. Als ich 87 war, habe ich noch heftig Tennis gespielt. Ich war früher ein verrückter Sportler. Ich habe in der Jugend bei 1860 München im Fußball bei der Oberliga-Reserve gespielt.
Was raten Sie jungen Menschen, die jetzt in die Politik gehen?
Sie sollen beherzigen, dass nicht die Partei das wichtigste ist. Es geht darum, den Ort voranzubringen. Und das möglichst miteinander. Das habe ich versucht und meistens erreicht.

