Erinnerungskultur:Die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar

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Mit der „Bibliothek der Namen“ wird auf dem Gelände des Haarer Klinikums nun sichtbar an die Deportation und Ermordung von etwa 4000 Menschen während der NS-Zeit erinnert. (Foto: Claus Schunk)

Mit der „Bibliothek der Namen“ wird auf dem Gelände des Haarer Klinikums an das dunkelste Kapitel der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt erinnert: die Deportation und Ermordung von etwa 4000 Menschen durch die „Euthanasie“-Verbrechen während der NS-Zeit.

Von Laura Geigenberger, Haar

Grau war der Bus, der am 18. Januar 1940 auf das Gelände der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, dem heutigen Isar-Amper-Klinikum, einbog. 25 männliche Psychiatriepatienten kletterten hinein; vermutlich ohne zu ahnen, dass sie an diesem Tag ihre letzte Reise antreten würden. Die etwa 200 Kilometer lange Fahrt endete im baden-württembergischen Grafeneck auf der Schwäbischen Alb –einer Tötungsanstalt der Nationalsozialisten. Noch am selben Tag wurden sie dort in einer Gaskammer ermordet.

Die 25 Männer waren die ersten von etwa 4000 Patientinnen und Patienten der Haarer Klinik, darunter auch Kinder und Jugendliche, die bis zum Ende des Dritten Reiches den „Euthanasie“-Verbrechen – den systematischen Krankenmorden durch die Nationalsozialisten – zum Opfer fielen. Sie wurden in Tötungslager deportiert oder starben vor Ort an Mangelernährung, Vernachlässigung oder Medikamenten-Überdosen. Die Deportation am 18. Januar 1940 markierte den Beginn eines hunderttausendfachen Mordens an behinderten und psychisch kranken Menschen. Die Biografien dieser im Rassenwahn der Nazis als „lebensunwert“ angesehenen Menschen sollten ausradiert, ihre Identitäten aus dem allgemeinen Gedächtnis gelöscht werden.

Nun sind die Namen und Geschichten dieser Menschen am Ort des Geschehens aber sichtbarer denn je: Am Samstag, dem 85. Jahrestag jenes ersten „Euthanasie“-Transports, eröffnete das heutige KBO-Klinikum ein neues Mahnmal im Gedenken an die ermordeten Patientinnen und Patienten. „Bibliothek der Namen“ heißt der etwa sechs Meter lange und zwei Meter breite dunkelblaue Stahlkasten an der Ringstraße, östlich der evangelischen Kapelle.

„Das Mahnmal stellt die Menschen in den Vordergrund“

Ein in die Rückseite eingearbeitetes Holzregal bewahrt Gedenktafeln für jedes einzelne bekannte Opfer auf, die Vor- und Nachnamen sowie Geburts- und Sterbedaten tragen. Beklebt wurden diese „Bücher“ unter anderem von Klinik-Mitarbeitern und -Unterstützern. An der Gedenkwand auf der Frontseite werden fortan wöchentlich per Hand die Schilder mit den Namen jener Menschen eingesetzt, die in der betreffenden Woche Geburtstag gehabt hätten. Dazu laufen über einem Monitor Daten über die Biografien der Getöteten.

„Das Mahnmal stellt die Menschen in den Vordergrund: Die Betrachter werden aufgefordert, sich mit den Opfern und mit deren Schicksal auseinanderzusetzen“, sagt Bezirkstagspräsident Thomas Schwarzenberger bei der Einweihungsfeier. „4000 Biografien – das waren 4000 Männer, Frauen und auch Kinder, die aus ihrer Familie gerissen wurden und dort große Lücken hinterlassen haben.“ Die „Bibliothek“ fungiere gleichermaßen als Mahnmal sowie als Lern- und Erinnerungsort, indem sie an die Identitäten der Menschen erinnere – weit über die nur aus den Krankenakten bekannten Diagnosen und Schicksale hinaus. Ihre Namen sollen bewusst sichtbar gemacht werden – und der Fokus auf die Geburtstage ihr Leben würdigen.

Kurt Ritter (links) erinnert gemeinsam mit seiner Nichte Valerie Ritter an die Ermordung seiner Großmutter Maria in der Heil- und Pflegeanstalt. (Foto: Claus Schunk)

So wird dort am 26. Februar etwa Maria Ritter gefeiert, geboren 1898 in Hohenzell. Einst sei sie eine lebensfrohe Bäuerin gewesen, berichten ihr Enkel Kurt sowie dessen Nichte Valerie Ritter. Doch weil sie begann, unter depressionsartigen Symptomen zu leiden, wurde sie 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Haar eingewiesen. Am 5. Mai 1940 verhungerte sie dort. Gerade einmal 29 Kilo wog sie laut Akte zum Zeitpunkt ihres Todes; zuvor wurde sie noch einer „Insulinschock-Therapie“ unterzogen. Maria Ritters älterer Bruder Josef war sogar schon seit 1921 Patient in Haar: Er wurde schließlich im Oktober 1940 in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und dort in einer Gaskammer ermordet. „Mir bedeutet das Gedenken sehr viel“, sagt Kurt Ritter mit bebender Stimme. „Erst jetzt findet das Gedenken statt und die Familien können erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist.“

„Nach all den Jahren der Unwissenheit bringt die traurige Wahrheit und das Gedenken einen gewissen Trost“, sagen auch Gertrud Creighton und Willi Kramer. Das Geschwisterpaar verlor 1943 seinen Cousin Wilhelm Gögel. Im Alter von nur zehn Jahren starb der Bub in der „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt an einer Medikamenten-Überdosis. Sein Geburtstag wird am 1. November in der „Bibliothek der Namen“ ausgestellt. „Warum er einfach verschwand, konnte ich mir damals nicht erklären. Seine Geschichte wurde von der Familie totgeschwiegen“, erinnert sich Gertrud Creighton.

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Dieses Schicksal teilten laut dem KBO-Vorstandsvorsitzende Franz Podechtl die meisten Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde. Zu lange seien die NS-Verbrechen in der Gesellschaft nicht thematisiert, die Namen der Opfer vergessen und die Angehörigen mit ihren Fragen alleingelassen worden. Das erste Mahnmal im Gedenken an die Opfer der sogenannten Euthanasie entstand ihm zufolge erst 1990 auf dem Areal der Klinik, 50 Jahre nach dem ersten Patiententransport. Umso wichtiger sei es jetzt, ihr Andenken durch sichtbare Zeichen lebendig zu halten, so Podechtl. „Zur Erinnerung, dass einst Menschen, die eigentlich Schutz und Hilfe erfahren sollten, Opfer von Ausgrenzung und unverzeihlicher Gräueltaten wurden. Das darf sich nicht wiederholen. Vergangen aber nicht vergessen – dafür tragen wir alle eine besondere Verantwortung.“

Denn Erinnerungskultur sei nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, betont Bezirkstagspräsident Thomas Schwarzenberger, sondern auch die „Richtschnur“ für die Moral- und Wertevorstellung der Gesellschaft und somit ein wesentlicher Teil der Demokratie. „Nur wer die Vergangenheit kennt und versteht, kann die Zukunft gestalten“, sagt er. Antidemokratische Akteure würden nun erneut Zulauf erfahren; Diskussionen über die Ausgrenzung, Kennzeichnung und gar die „Remigration“ von besonders Schutzbedürftigen längst wieder öffentlich geführt. Dem gelte es gegenüberzutreten und die Lehren der Vergangenheit „laut und sichtbar“ zum Ausdruck zu bringen. Alldem voran stehe der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so Schwarzenberger. „Diese Norm ist nicht verhandelbar – sie ist unser Kompass.“

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