Gesundheitswesen:Das System der Pflege ist krank

Gesundheitswesen: Bis heute wird in Deutschland die dienende Rolle von Kranken- und Altenpflegern betont. Dabei macht den Beruf viel mehr aus, wie der Blick in andere Länder zeigt.

Bis heute wird in Deutschland die dienende Rolle von Kranken- und Altenpflegern betont. Dabei macht den Beruf viel mehr aus, wie der Blick in andere Länder zeigt.

(Foto: Kzenon/imago images / Panthermedia)

Bei einer Online-Debatte der Grünen in Haar appellieren Fachleute dringend, hinsichtlich der Betreuung alter Menschen vom Ausland zu lernen. Als Vorbilder gelten etwa Großbritannien und die Niederlande.

Von Bernhard Lohr, Haar

Die Menschen werden älter, die Pflegekräfte weniger. Und die Rufe aus dem Berufsstand werden lauter, endlich einen radikalen Kurswechsel in der Kranken- und Altenpflege vorzunehmen, um das nach vielfacher Diagnose kranke System der Pflege wieder auf den Weg der Besserung zu bringen. Uwe Manns arbeitet als Krankenpfleger am Isar-Amper-Klinikum in Haar und sagte bei einer von ihm moderierten Online-Debatte der Grünen: "Ich mache meinen Beruf gerne", aber er könne Kollegen verstehen, die ihren Job hinwerfen. Und das beabsichtigen einer aktuellen Befragung zufolge, die Manns zitierte, viele: acht von zehn Intensivpfleger, insgesamt mehr als jeder Vierte.

Wie kann es gelingen, das durch die Corona-Krise zusätzlich unter Druck geratene System, in dem Klagen über Arbeitsbelastung und miese Bezahlung zur Tagesordnung gehören, vor dem Zusammenbruch zu retten? Der Blick in andere Länder kann da helfen.

Die Lage im Landkreis München, in Bayern und Deutschland ist jedenfalls ernst. Auf 1000 Bewohner kamen 2017 noch 31 Pflegebedürftige, 2027 werden es bereits 38 sein und 2040 dann 40. Der Landkreis zählt mit der Stadt München sowie den Landkreisen Ebersberg, Dachau und Starnberg zu denen in Bayern mit der höchsten Zunahme von Menschen über 75 Jahren. Zugleich brechen die Anmeldungen bei den Pflegeschulen und auch an den sieben Studiengängen für primärqualifizierende Pflege ein, die es in Bayern gibt.

"Wir bräuchten fünf Prozent Ausbildungsquote und wir haben 2,3", sagte Michael Wittmann mit Blick auf die Krankenpflege. Wittmann ist Geschäftsführer der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) und stellte mit Vorstandsmitglied Stefanie Schlieben viele weitere Zahlen aus einer im Jahr 2020 erstellten Studie vor, die bis auf den Landkreis heruntergebrochen waren. Mehr Pflegekräfte werde es in Zukunft nicht geben, sagte Wittmann. "Ein grundlegender Systemwandel ist notwendig."

Gesundheitswesen: Bei der Online-Debatte der Grünen wurde die Forderung nach einem Systemwechsel in der Pflege laut.

Bei der Online-Debatte der Grünen wurde die Forderung nach einem Systemwechsel in der Pflege laut.

(Foto: privat/Screenshot)

Ein Problem hierzulande sind offenbar überholte, schwerfällige Strukturen, die in den Niederlanden oder in Großbritannien und vielen anderen Ländern längst überwunden sind. Wittmann beklagte ein falsches Versorgungsdenken, in dem die stationäre Unterbringung in einem "personalintensiven" Heim im Mittelpunkt stehe. Wittmann warb für das aus den Niederlanden stammende "Buurtzorg"-System. Der Begriff kommt von "Buurt", was Nachbarschaft bedeutet, und "Zorg" für Pflege. Es zielt darauf ab, Menschen lange ein selbst bestimmtes Leben in vertrautem Umfeld zu ermöglichen. Ein Vorbild aus Großbritannien ist laut Wittmann das School-Nursing, wo schon früh Kinder Gesundheitsschulung erführen. In Kanada, Finnland und Slowenien wiederum helfen an Hochschulen ausgebildete Community Health Nurses, die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Dagegen müssten Pflegekräfte hier noch für kleinste Entscheidungen im medizinischen Bereich Ärzte hinzuziehen. Der Berufsstand werde klein gehalten.

Das Image ist entsprechend. Wittmann und Schlieben schilderten Auftritte bei Bildungsbörsen, wo sich kein einziger Jugendlicher für eine Ausbildung in der Pflege interessiert habe. Schon jetzt gelinge es nicht, nur den Status quo zu halten, sagte Wittmann. Wie solle man einen Mehrbedarf abdecken, der bis 2040 je nach Altersstruktur im Landkreis zwischen 27 und 84 Prozent an Pflegebedürftigen ausmacht. Das Berufsbild müsse sich ändern, sagte Wittmann. Er warb für eine verstärkte "Heilkundeübertragung" von Ärzten zu Pflegekräften. Für viele an Hochschulen ausgebildete Pflegekräfte aus dem Ausland sei es unattraktiv, in Deutschland zu arbeiten. Die rein helfenden, dienenden Tätigkeiten schreckten ab.

Längst gibt es partiell Engpässe in der Versorgung. Margareta Förster, Geschäftsführerin der Nachbarschaftshilfe in Haar, musste nach eigenen Worten Anfragen auf häusliche Pflege ablehnen, weil sie ein halbes Jahr lang nach einer Pflegekraft suchte. Junge Menschen verließen den mobilen Pflegedienst nach der Ausbildung Richtung Kliniken, wo besser bezahlt werde, gerade in der Psychiatrie. Gewerkschaftssekretär Ben Pulz von Verdi beklagte das kommerzialisierte Gesundheitswesen, Wittmann forderte mehr kommunale Verantwortung im Gesundheits- und Pflegebereich.

Tatsächlich haben Kommunen Einfluss. Jüngst hat der Landkreis München beschlossen, einen Pflegestützpunkt als Kompetenz- und Beratungszentrum im Landkreis zu schaffen. Die Gemeinde Haar hat sich auf Antrag von Grünen-Gemeinderat Uwe Manns als Standort beworben. Frauke Schwaiblmair beklagte, dass Kommunen mit ihrer Baupolitik falsche Akzente setzten, so wie Gräfelfing, das zu überaltern drohe. Wer keinen Wohnraum für junge Familien schaffe, der produziere Probleme, sagte die Inklusionsbeauftragte des Bezirks Oberbayern, die auch Kreisrätin und Gemeinderätin der Grünen in Gräfelfing ist. Schwaiblmair warb für Projekte des "Gemeinwohl-Wohnens" für Jung und Alt.

Wie aus Zahlungen von Pflegegeld abzulesen ist, werden 43 Prozent der Pflegebedürftigen im Landkreis München zuhause von Angehörigen versorgt. Wittmann warb dafür, diese sozusagen ehrenamtlich Pflegenden zu entlasten. Es müsse mehr Einrichtungen der Tagespflege und Kurzzeitpflege geben. Der Haarer CSU-Gemeinderat Dietrich Keymer warb dafür, zur Entlastung Pflegender in den Familien ein engmaschiges lokales Netzwerk mit mobilen sozialen Diensten zu schaffen. Die Hoffnung gerade auch von Pflege-Geschäftsführer Wittmann, dass das Ehrenamt dabei vielleicht eine entlastende Rolle spielen könnte, zerstörte die Chefin der Haarer Nachbarschaftshilfe freilich. Dafür habe kaum noch jemand Zeit, so Förster. Im Landkreis München mit seinen hohen Lebenshaltungskosten müssten in Familien meist beide arbeiten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: