Alois Ritter steht am Grab seiner Mutter. Zumindest dort, wo man es vermutet. Ein goldfarbener Stein markiert die Stelle. Soeben haben sein Sohn Kurt und seine Enkelin Valerie mit Hammerschlägen eine Tafel in den Boden gerammt, auf der ein Foto das Bild seiner Mutter Maria zeigt, Bäuerin aus Gerolsbach mit fünf Kindern, geboren am 26. Februar 1898 in Hohenzell, gestorben am 5. Mai 1940 in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. 29 Kilo habe sie bei ihrem Tod gewogen, sagt Urenkelin Valerie mit leicht brüchiger Stimme. Und klar und deutlich: „Ich würde mir von der Anstaltsleitung von Herzen wünschen, dass sie sich was überlegen, wie sie diesen Wald würdevoll gestalten.“
In diesem Moment am Freitagnachmittag herrscht auf dem früheren Anstaltsfriedhof am Rande des heutigen Isar-Amper-Klinikums völlige Stille. Etwa 80 Personen sind einem Aufruf der Gedenkinitiative für die Münchner „Euthanasie“-Opfer gefolgt, um unter den hohen Bäumen in dem zugewachsenen Gelände, auf dem nur wenige Gräber markiert sind, an die mehr als tausend NS-Opfer zu erinnern, die dort zwischen 1939 und 1945 bestattet wurden; alles Psychiatrie-Patienten, die Ärzte und Pflegekräfte in Hungerhäusern mit Nahrungsentzug und Medikamenten umgebracht haben.
Die damalige Anstalt Eglfing war in der NS-Zeit in Bayern zentraler Ort für die Ermordung von Menschen, deren Leben als unwert angesehen wurde. Dorthin wurden sie von kleineren Einrichtungen und Kliniken überwiesen. Am 18. Januar 1940 ging von Haar aus der erste Transport in eine Tötungsanstalt, 25 Männer wurden noch am selben Tag im württembergischen Grafeneck vergast. Der Tag gilt heute als Beginn der sogenannten T4-Aktion, bei der systematisch kranke Menschen selektiert und umgebracht wurden, mehr als 1000 Frauen, Männer und Kinder etwa in Hartheim bei Linz.
Als der Widerstand der Kirchen wuchs, ging das Morden direkt in Anstalten wie Haar bis Kriegsende weiter. Offenkundig schwächte man sogar schon 1939 und Anfang 1940 Patienten durch Nahrungsentzug. Laut Maria Ritters Enkelin kamen schon mehr als zwei Jahre vor dem Hungerkosterlass des bayerischen Innenministeriums grausam Patienten zu Tode.
Das Isar-Amper-Klinikum sieht sich als Vorreiter bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Vor dem Hauptgebäude erinnert ein Transparent daran, dass Personal den späteren Artikel 1 des Grundgesetzes grob missachtete, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. Mehr als 4000 Namen sind aufgelistet – die Gesamtzahl der Opfer, die in Zusammenhang mit Haar zu Tode kamen. Es gibt Gedenkorte auf dem Klinikgelände und Gedenkveranstaltungen. Und die Aufstellung der Tafel von Maria Ritter und drei weiteren Ermordeten, die auf dem Friedhof beigesetzt worden sind. Sie findet am Freitag in der Pause einer Tagung statt, bei der Fachleute, Mitarbeiter der Klinik, Angehörige und ehemalige Psychiatrie-Patienten über angemessenes Erinnern diskutieren.
Der Ärztliche Direktor Peter Brieger ist mitgekommen zu dem Gedenkmarsch auf den Anstaltsfriedhof. Die Frage der Urenkelin, warum der Friedhof so verwaist ist, greift er direkt auf: „Wir haben das noch nicht gemacht, aber wir haben viel gemacht.“ Er sei seit 2016 an der Klinik und versuche, die Erinnerungsarbeit für alle sichtbar und wirksam im Klinikalltag zu etablieren. Deshalb das Transparent am Eingang, wo es 3000 Besucher der Klinik jeden Tag sähen. Es gebe auch ein Konzept für einen erweiterten Gedenkort, an dem die Namen aller Ermordeten noch besser an zentraler Stelle gezeigt werden sollen.
Diese Bemühungen heben sich laut Sibylle von Tiedemann vom NS-Dokumentationszentrum Haar von anderen Kliniken wie etwa Mainkofen ab, an denen ebenfalls Verbrechen begangen wurden. Jörg Skriebeleit, der die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg leitet und das Isar-Amper-Klinikum beim Aufbau seiner Erinnerungsarbeit berät, sagt bei der Tagung in seinem Vortrag, an den zu „Mordstätten“ umfunktionierten früheren Fürsorgeanstalten seien Ärztezimmer zu Selektionsräumen, Krankenstationen zu Sterbe- und Mordzonen umfunktioniert worden. Türe, Tore, Auffahrten und Wege seien zu Deportationsetappen mutiert, Pathologien und Prosekturen zu Verwertungskomplexen menschlicher Überreste und Anstaltsfriedhöfe zu Entsorgungsarealen. Nach dem Krieg seien die Anstalten weiterbetrieben worden, die Verbrechen habe man verdrängt. Erst spät hätten manche Kliniken gerade auf den Anstaltsfriedhöfen Gedenkorte eingerichtet, die wenig Beachtung gefunden hätten. In Haar geschah gerade das nicht.
Eine zentrale Frage der Tagung ist die von der Gedenkinitiative Münchner Opfer im Jahr 2019 unter anderem aufgeworfene Problematik, dass an ehemaligen Tatorten heute Patienten behandelt werden. Skriebeleit verteidigt das und nennt die früheren Anstalten „gewordene“ Tatorte im Gegensatz zu Konzentrationslagern als Terrororte „per se“. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bezeichnet Gedenken an den ehemaligen Tatorten als besonders wichtig. Diesen Orten wohne eine „enorme Bindungskraft“ inne, sie fungierten als „Kontaktzonen“ und schlügen Brücken in die Vergangenheit. So wie jetzt die Tafel, die laut Tiedemann an dem mit Pfosten und Nummern provisorisch markierten Grab an Maria Ritter erinnert. Deren jüngster Sohn Alois Ritter – heute mit Mitte 80 – folgt sichtlich bewegt den Worten seiner Enkelin Valerie.
Eine weitere Tafel steht auf dem Friedhof für die Schauspielerin Emmy Rowohlt, die kurz mit dem Verleger Ernst Rowohlt verheiratet war und am Münchner Nationaltheater und an den Kammerspielen auftrat. Sie starb in Eglfing am 28. September 1944. Johann Meixner stand bereits auf einer Deportationsliste, als ihn seine Mutter am 30. Oktober 1940 aus der Heil- und Pflegeanstalt in Haar holte und vor der Gaskammer bewahrte. Später wurde er wieder in die Anstalt eingeliefert, dort starb er am 20. Juni 1943. Auch Zwangsarbeiterinnen, die erst verschleppt und dann ermordet wurden, liegen in Haar begraben. Etwa Ekaterina Terschina aus der Ukraine, die am 31. Juli 1943 starb.