Behördenumzug:Europäisches Gericht verlässt Haar

Behördenumzug: Flaggen europäischer Länder wehen vor dem Europäischen Patentamt in der Erhardtstraße im Wind.

Flaggen europäischer Länder wehen vor dem Europäischen Patentamt in der Erhardtstraße im Wind.

(Foto: Florian Peljak)

Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts werden nach wenigen Jahren an der Peripherie voraussichtlich wieder in die Münchner Innenstadt zurückziehen. Deren Beamte fremdeln bis heute mit der Stadtrandgemeinde.

Von Bernhard Lohr, Haar

Haar versteht sich als weltoffene Kommune vor den Toren Münchens und auf den Straßen begegnet man Leuten mit Aktenkoffern, die perfektes Englisch und Französisch sprechen. Denn die Gemeinde ist für Juristen aus ganz Europa seit drei Jahren eine Top-Adresse. Seit 2017 ist die 20 000 Einwohner zählende Gemeinde Standort der höchsten Gerichtsbarkeit des Europäischen Patentamts (EPO). Haar spielt sozusagen in der Europa-Liga und steht als Sitz einer eigenständigen EPO-Behörde formal sogar auf Augenhöhe mit München und Den Haag. Doch damit könnte es schon bald wieder vorbei sein: Die Top-Juristen sollen wieder in München arbeiten und Recht sprechen. Dahinter stecken organisatorische Gründe. Aber es hadern auch viele Mitarbeiter bis heute mit Haar.

EPO-Präsident António Campinos und der Präsident der Beschwerdekammern, Carl Josefsson, der sein Büro in Haar-Eglfing nahe dem Bahnhof hat, haben jetzt in einer gemeinsamen Erklärung den voraussichtlich anstehenden Umzug angekündigt. Gemeinsam habe man den Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation den Vorschlag unterbreitet, die Einheit in die Münchner Innenstadt zurückzuverlegen, heißt es. Begründet wird das mit dem Trend zur Digitalisierung und Telearbeit, wodurch Bürogebäude des EPO effizienter genutzt werden könnten.

EPO-Präsident Campinos stellt einen Umzug in die Pschorrhöfe an der Hackerbrücke in Aussicht. Diese seien nahe dem Hauptbahnhof für internationales Publikum gut zu erreichen, heißt es. Campinos sagt aber auch, "die zentralere Lage innerhalb Münchens würde sehr geschätzt" und beschreibt damit auch die Stimmungslage in der Belegschaft. Denn als 2017 bekannt wurde, dass die hochdotierten Juristen in einen Münchner Vorort ziehen sollten, war der Aufruhr groß. Viele fühlten sich regelrecht strafversetzt. Das wird jetzt wieder korrigiert. Und Haar verliert nach dem Wegzug des Pharmakonzerns MSD weiter an internationalem Flair.

Auf den Fluren der Beschwerdekammern in dem Bürokomplex "Eight in one" wurden die vergangenen drei Jahre wie an einem internationalen Gerichtshof strittige Patentfälle behandelt. Die Patentorganisation umfasst sogar mehr Länder als die Europäische Union. Außer den EU-Staaten ist Großbritannien dabei, aber auch Nordmazedonien, Serbien und die Türkei. Insgesamt 38 Mitgliedstaaten zählt das hinter dem EPO und den Beschwerdekammern stehende Konstrukt, dessen Vertreter den Umzug nach München im März 2022 erst noch absegnen müssen. Mit ihrer wegweisenden Rechtsprechung wirkten gerade die Beschwerdekammern auf das Patentwesen in der gesamten Welt, wie deren Präsident Josefsson einmal sagte.

Anwälte diskutierten die "haarspalterische" Frage, ob die Gemeinde als Standort in eine Reihe mit München und Den Haag gehört

Doch dieses Selbstverständnis war für Haar auch Ballast. Nicht nur empfanden viele Behördenmitarbeiter die Verlagerung damals vom Stammsitz am Deutschen Museum in München nach Haar als Strafe; der Gerichtsstandort in Haar geriet dem Patentamt auch fast zum juristischen Eigentor. Denn tatsächlich versuchten gewiefte Anwälte 2019 bereits in einem Verfahren um eine strittige technische Detailfunktion eines Mobilfunkstandards eine Entscheidung der Beschwerdekammern dadurch zu kippen, dass sie den Gerichtsstandort Haar anfochten. Denn Haar sei anders als München und Den Haag in Artikel 6 des Europäischen Patentübereinkommens nicht als EPO-Standort geführt, argumentierten sie. Daher seien mündliche Verhandlungen in Haar nicht statthaft. Die Handlungsfähigkeit der Beschwerdekammern stand wegen Haar sogar vorübergehend in Frage.

Dieser Streitfall, den eine Hamburger Patentanwalts-Kanzlei nicht zuletzt wegen der internen Querelen im Patentamt genüsslich unter der Überschrift "Haarspalterei" akribisch dokumentiert hat, ging den EPO-Juristen dann doch zu weit. Die ebenfalls in Haar ansässige Große Beschwerdekammer befand als letzte Instanz im Juli 2019, dass die Angabe "München" keine Beschränkung auf die Stadtgrenzen impliziere. Durchaus ein Kompliment für den Landkreis München, der zumindest formaljuristisch höchsten europäischen Ansprüchen genügt. Denn die Entscheidung wurde damit begründet, dass "München" für das "Europäische Patentamt und seine Organe auch Liegenschaften im Großraum München, jedenfalls im Landkreis München", einschließe.

In Haar ist man wohl auch nicht nur traurig über das Ende des Ausflugs nach Europa. Der brachte zwar eine gewisse Weltläufigkeit in die Gemeinde, aber die so dringend benötigten Gewerbesteuer-Einnahmen brachte die Behörde mit ihren Gerichtssälen nicht, die freilich große und prominent gelegene Büroflächen nahe dem Bahnhof belegten. Bürgermeister Andreas Bukowski (CSU) beklagte eben erst wieder, dass es kaum realistische Aussichten auf hochwertige freie Gewerbeflächen in Haar gebe. Nun wird bald außer im MSD-Gebäude auch am ehemaligen EPO-Sitz ein Nachmieter gesucht.

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