Ein Schlosser auf der Walz:Wanderjahre

Walz
Raphael Beljung
Grünwald
Schlosser
Geselle
Fremder

Sechs Gesellen blicken über die Saarschleife. Beljung (Dritter v. re.) sitzt am Aussichtspunkt Cloef, 180 Meter über dem Fluss.

(Foto: privat/oh)

Raphael Beljung war 48 Monate unterwegs, als Beifahrer, mit wenig Geld und ohne Handy. 2017 hat er wieder eine Adresse, macht seinen Meister in Grünwald und den Führerschein.

Von Ulrike Schuster

Ein einziges Mal passierte es doch. Raphael Beljung bat die Autofahrerin rechts ranzufahren, um auszusteigen. Die Frau hatte gerade erzählt, seit kurzem setze sie auf Marihuana statt auf Psychopharmaka, "aber mit 100 Stundenkilometern durch den Ort zu ledern, entspannte mich nicht", sagt der Schlosser aus Grünwald. Nur ein Exit bei 4000 Trips als Beifahrer - eine gute Bilanz fürs Trampen. Mehr als vier Jahre war Beljung auf der Walz.

Ein Wandergeselle kennt kein festes Dach, keine eigene Toilette, keinen Kleiderschrank. Laptop, Handy, Fernseher tauscht er gegen Deutschlandkarte, Taschenmesser und Nähzeug. Klingt nach Mittelalter? Ist es auch. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Walz noch Pflicht für alle Gesellen, die irgendwann Meister werden wollten. Heute ist die Wanderschaft freiwillig, laut Beljung ist sie "das letzte große Abenteuer in unseren Breitengraden". Tatsächlich tut sich dies gerade mal ein Prozent aller Handwerksgesellen jedes Jahr an, geschätzte 600 sind es. Für die alten, strengen Regeln braucht es nämlich Mut. Mindestens drei Jahre und einen Tag lang muss der Wandergeselle unterwegs sein. Nicht jeder darf wandern: Der Geselle muss ledig, kinderlos, schuldenfrei, ohne Vorstrafe, jünger als 30 Jahre alt sein.

Er fragt sich, ob das Leben für ihn auch anders funktioniert

Beljung erfüllte alles. Er war 25 Jahre alt, er hatte Arbeit, ein Gehalt, materiell war er zufrieden. Er fragte sich aber, ob das Leben für ihn auch anders funktionieren kann; weniger bequem, routiniert, etwas unberechenbarer, fordernder. Die Walz war die Chance, das herauszufinden. Würde er mit den Ostdeutschen auf der Arbeit klarkommen, mit den Rheinländern über die gleichen Dinge lachen können und es aushalten, morgens nicht zu wissen, wo er abends Zähne putzen und schlafen wird?

Als Beljung im März 2012 losmarschiert, weiß er nur eines: Er wird zu Fuß oder per Anhalter unterwegs sein, nie aber mit Bus oder Bahn. Darauf wird der Wandergeselle regelrecht festgenagelt, heißt: mit Schnaps betäubt, sein Ohrwaschl auf den Tisch geklemmt, der Eisennagel angesetzt und der Hammer draufgehau'n - bähm! Seitdem baumelt durch Beljungs Ohrloch ein langer, silberner Wappenring mit Hammer und Zange, das Werkzeug des Schlossers, sein Talisman.

Wohin der Weg führt, entschied er täglich neu. Mal fuhr er eine 600 Kilometer lange Strecke mit, mal wechselte er die Autos sechs Mal am Tag; länger als eine halbe Stunde musste er nie auf die Anschlussfahrt warten. Ein beachtlicher Schnitt in Zeiten der Angst. "Das ist die Kluft", sagt der Schlosser. "Die Menschen erkennen den reisenden Handwerker und vertrauen ihm." Die Kluft, von Schneiders Hand gemacht, 1000 Euro wert, ist das traditionelle Kleidungsstück der Wandergesellen und signalisiert: "Das ist ein zünftiger Kerl", ein aufrichtiger, anständiger, achtbarer Mann. Beljungs Kluft ist weiß, die Farbe der Schlosser, Maurer und Steinmetze. Und auch sonst ist nichts an ihr zufällig: sechs Jacken-Knöpfe für sechs Tage Arbeit, acht Westen-Knöpfe für acht Stunden täglich, die Cordhose mit Schlag gegen Regen in den Schuhen.

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Schlosser Raphael Beljung auf Wanderschaft.

(Foto: privat/oh)

Suchte er Arbeit, zog er von Werkstätte zu Werkstätte und trug dem Meister den traditionellen "Schnack", achtzehn gereimte Zeilen vor. Gekürzt lautet die Botschaft "Hand gegen Koje": Ich bin fremd, will Arbeit und Bett. Für zwölf Euro die Stunde schweißt Beljung Tore, Türen, Zäune und Geländer, verputzt Innen- und Außenwände und gestaltet Grabsteine. "Die Bayern arbeiten ganz anders als die Ostdeutschen", sagt der Schlosser. "Im Süden heißt es: Das wollen wir herstellen, deshalb bestellen wir das und das." Im Osten heiße es, das haben wir noch auf Lager, deshalb stellen wir das und das her.

Fühlt er sich einsam, macht er Station in einer der Gesellenherbergen, ein Mix aus Kneipe und Gästezimmer, in circa 24 deutschen Städten zu finden. Ein Schacht ist eine Art Verein, in dem sich die Burschen Netzwerk und Hilfe sind, davon gibt es noch sieben. Schlosser Beljung ist Mitglied in der "Gesellschaft der rechtschaffenen fremden und einheimischen Maurer- und Steinhauergesellen", die älteste im Land, seit dem 17. Jahrhundert gibt es sie. In diesen Herbergen feiern die Wandergesellen eine frische "Losgeherei" - das Abschiedsfest mit dem Ohrlochschlag, und hier verabreden sie sich "für in zwei Wochen" auf irgendeinem Marktplatz der Republik. Versetzt wird Beljung nie, sagt ein Kamerad er kommt, kommt er auch. "Das gesagte Wort und der Handschlag sind alles, was zählt", sagt der Schlosser. Feintuning per Handy geht ja nicht. Sein Smartphone schenkte er vor der Reise einem Kumpel. Ein Verlust? "Schöner Luxus, weniger Stress, niemand kann dich kontrollieren." Es ist einfach nicht möglich, dem Chef tagsüber einen Zwischenbericht zu liefern.

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Beljung auf dem Wendelstein in der Maurerkluft seines Schachts.

(Foto: privat/oh)

Er ist ein Landstreicher, sieht aber nicht wie einer aus

Häufig passiert es, dass Beljung gleich gemeinsam mit den anderen Gesellen von der Herberge losmarschiert. Nicht das in Gedichten und Liedern viel beschworene Alleinsein ist für den Schlosser das Romantische am Reisen, sondern das geteilte Erlebnis mit den Kumpels, die "Zusammen-Momente", die einander auch beim hundertsten Mal Erzählen nicht langweilen.

Den Tag beendet er immer in der "Beiz", einer urigen Kneipe, bei zwei Bier und einer Unterhaltung mit Unbekannten, es ist ein Ort willkommener Zufallsbekanntschaften. Die Idee des reisenden Fremden gefällt den Menschen. Es ist die Vorstellung vom kernigen Kerl, der sich der Moderne, dem Fortschritt und der Bürgerlichkeit widersetzt - das aber kultiviert. Er ist ein Landstreicher, sieht aber nicht wie einer aus. Er hat die Haare schön, und der Körperduft stimmt. Braucht er Geld, arbeitet er und fragt nicht nach Almosen. Erbittet er Gastfreundschaft oder Sachspenden, sagt er Reim-Sprüchlein auf, die völlig altbacken und doch außergewöhnlich hübsch klingen - das beeindruckt.

Irgendwann nervte ihn alles

An Weihnachten bekamen Beljung und seine Gesellenkumpels nicht nur das Schloss von einem Gutsherren in Brandenburg überlassen. Der Dorf-Käser sponserte eine Platte Käse mit Trauben, der Metzger Weißwürste, der Bäcker lieferte Baguette, der Bauer eine Gans, der Fischer Forellen, und der Förster sägte ihnen die Tanne im Wald um. "Das Krippenspiel führten wir aber selbst auf."

Heute ist Beljung 29, hat ein Spitzbubenlachen und lichtes, blondes Haar. Er trägt Schiebermütze, Jeans, Karohemd, Pullunder. Er wirkt unauffällig. "Es ist ein seltsames Gefühl, im Supermarkt einzukaufen, ohne die Blicke auf mich zu ziehen."

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Das Wanderbuch mit den Stempeln der besuchten Orte ist eine Erinnerung.

(Foto: privat/oh)

Irgendwann nervte ihn alles. Ständig fotografiert zu werden, die täglich wechselnden Bekanntschaften, der Druck, immer weiter ziehen zu müssen. Das Abenteuer Wanderschaft war nach mehr als 1500 Tagen Alltag geworden. Beljung fehlte am Ende das, was er anfangs gesucht hatte: die Herausforderung, das Unvorhersehbare. Und dann war da noch die Angst. "Was, wenn ich auf dem Nomadenleben hängen bleibe, den Absprung nicht mehr schaffe?"

Vor wenigen Wochen ist Beljung nach Hause zurückgekehrt. Er wohnt in einem Schuhkarton in Neuperlach auf 15 Quadratmetern, mit ein paar selbstgezimmerten Möbeln, Kochnische und Klo. Es sind bescheidene Verhältnisse, die ihn glücklich machen. So fühlte er aber auch, als er zwei Euro in der Tasche hatte, im Winter im Sparkassenvorraum und im Sommer auf einer Autobahnbrücke schlief. Not oder Selbstmitleid spürte er nicht. Nur einmal befand er sich im "Wuttunnel" und schimpfte schwer, als ihn nachts auf der Brücke eine Schar Jugendlicher mit Wasserbomben bewarf. Viel mehr als das Ereignis selbst überraschte ihn, dass so etwas nicht häufiger passierte. "Auf der Walz bleiben dir die Freundlichkeit, die Großzügigkeit der Menschen in Erinnerung." Sobald er seinen Führerschein hat, will er auch mal jemanden auf dem Beifahrersitz mitnehmen. Ehrensache.

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