Ein Tag im Grünen:Der Baumsammler

Lesezeit: 4 min

Ein Garten ist immer im Werden, sagt Rudolf Wanninger. Die Gartenarbeit überlässt der 98-Jährige mittlerweile seiner Partnerin Luise Piltz, während er auf der Terrasse liest oder ins Grüne schaut. (Foto: Angelika Bardehle)

Im Garten von Luise Piltz und Rudolf Wanninger wachsen Gehölze in allen Größen, selbst ein Mammut ist darunter. Der 98-Jährige Grünwalder zeigt sein "Paradies" beim Tag der offenen Gartentür und erzählt dazu viele Geschichten.

Von Christina Hertel

Und das da oben sind Jakob und Adele", sagt Rudolf Wanninger, 98 Jahre alt, er hat einen weißen akkurat gestutzten Schnauzer, weißes nach hintengekämmtes Haar, als käme er gerade aus dem Bad. Mit seiner Krücke deutet er Richtung Dach. Dort oben auf dem First stehen zwei Figuren in Nachthemd und Zipfelmütze, die Arme nach vorn gestreckt wie zwei Schlafwandler.

In einer Achtzigerjahrefernsehserie sind Jakob und Adele ein Paar, das sich zufällig kennenlernt und sich nicht damit abfinden will, dass mit Mitte 60 das Leben bloß aus Gesprächen über Arztbesuche und Stützstrümpfe bestehen soll. Auf Wanningers Dach sind die beiden ein Symbol für sein Leben: Ende der Achtziger Jahre verliebt er sich in Luise Piltz, er ist Witwer, ihr Ehemann war ebenfalls verstorben. Heute ist Luise Piltz 81 und hat immer noch Augen, die sich leicht von der Welt begeistern lassen.

Rudolf Wanninger und seine Partnerin Luise Piltz besprechen stets gemeinsam, was im Garten gemacht werden muss und wie er gestaltet werden soll. (Foto: Angelika Bardehle)

"Jakob und Adele blieben immer per Sie", sagt Rudolf Wanninger. "Das drückt doch eine hervorragende Wertschätzung aus." Wenn er über seine Partnerin spricht, nennt er sie "Frau Piltz".

Die beiden wohnen in einem Haus in Grünwald mit einem Garten, bei dem praktisch hinter jedem Baum, jedem Stein, jedem Busch eine kleine Geschichte steckt. Am Sonntag, 30. Juni, kann sich das alles, jeder der Lust hat, ansehen und vielleicht auch die ein oder andere Anekdote anhören. Rudolf Wanninger und Luise Piltz beteiligen sich wie 14 weitere Hobbygärtner im Landkreis am "Tag der offenen Gartentüre". Von 10 bis 17 Uhr können sich Interessierte zum Beispiel eine Kleingartenanlage in Taufkirchen ansehen, Palmen und Olivenbäume in Brunnthal bewundern, sich in Neubiberg erklären lassen, was ein Wurmwanderkasten ist. Oder an der Wörnbrunner Straße 18 in Grünwald das Grundstück mit dem gelben Briefkasten an der Gartentüre betreten.

Wanningers Eltern kauften das Haus 1938 - in einer Zeit, in der die Menschen bei Grünwald noch nicht automatisch an Champagner und Poolpartys dachten. Wanninger lebt in keiner Villa, sondern einem Siedlungshaus, dessen 600 Quadratmeter großer Garten einst dazu gedacht war, die Familie zu versorgen. Gemüsebeete, Kirsch- und Zwetschgenbäume standen dort.

Heute wächst in dem Garten fast nichts mehr, was man essen könnte, dafür gibt es umso mehr zum Ansehen: die verschiedensten Bonsaibäume, Pfingstrosen, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, einen Mammutbaum aus Kalifornien - eine Art, die zu den größten der Erde zählt. Wanninger brachte ihn in den Neunzigern in seinem Koffer aus einem Urlaub mit. Vielleicht einen halben Meter sei er damals groß gewesen, jetzt reicht er bis zum Dach. "Bis heute habe ich noch nicht herausgefunden, wie sich der Baum vermehrt", sagt Rudolf Wanninger, zweimal. "Na du brauchst ja auch nur einen", sagt Luise Piltz.

Luise Piltz ist eine Frau, die ihre Plastiktüten auswäscht und wieder verwendetet, weil sie es nicht aushält, Dinge zu verschwenden. Und Rudolf Wanninger ist ein Mann, dem die kleinen Dinge wichtig sind. Die Steine um die Terrasse fand er an der Isar, die Baumstümpfe, quer im Garten verteilt, Podeste für Blumentöpfe, in der Nachbarschaft. Er sei ein "Alles-Sammler".

Bis vor drei Jahren habe er noch in dem Garten mitgearbeitet, inzwischen liegt er auf dem Liegestuhl und liest ein Buch - die Memoiren von Casanova zum Beispiel oder etwas über die spanische Geschichte - während Luise Piltz herumwerkelt. An vielen Tagen sei sie vier, fünf Stunden beschäftigt.

Mit Tipps halte er sich zurück, sagt Wanninger. "Sonst wäre ich eine Kontrollperson. Das wäre ja lächerlich." Doch, wie der Garten aussehen soll, besprechen sie gemeinsam und gemeinsam entschieden sie auch, dass es eine Art Paradies für Bäume werden sollte, mindestens zehn verschiedene stehen dort. Ahorn-Bonsais, manche nicht einmal einen Meter groß, eine serbische Fichte, die das Dach überragt, Zypressen, die Wanninger in den Fünfziger Jahren für zwei Mark kaufte.

Das Faszinierende an Bäumen sei für sie, dass sie schon so viel gesehen haben, sagt Luise Piltz. "Und dass sie einem davon erzählen, wenn man hinhört." Sie und Rudolf Wanninger wuchsen in einer Zeit auf, in der die Träume groß waren, aber die Möglichkeiten begrenzt. Luise Piltz hätte gerne in einem Hotel gearbeitet, weil sie so neugierig sei, aber den Menschen nicht zu nahe kommen möchte - stattdessen landete sie einem Büro.

Als Kind floh sie mit ihrer Familie aus Südmähren, heute ein Teil Tschechiens. Angekommen in Bayern besuchte sie die Schule nur bis zur 8. Klasse, immer nur ein paar Stunden am Tag, weil sie danach auf dem Feld arbeiten musste. Geld für eine Hotelschule besaß die Familie nicht. "Kermess heißt sie", sagt Piltz. "Immer noch."

Auch Wanninger träumte als junger Mann von einem anderen Leben. Die Erinnerung an den Tag, der diese Träume zerstörte und gleichzeitig sein Leben rettete, hängt in der Wohnzimmerecke. Ein Flugzeug mit der Nase nach unten, eines, wie es Piloten im Zweiten Weltkrieg flogen. 1942, Wanninger war damals 21 Jahre alt und ein Flieger der Luftwaffe, als er über dem Kaukasus abgeschossen wurde. Schädelbruch, Wirbelbruch, Schlüsselbeinbruch, Ober- und Unterschenkelbruch.

Nach diesem Tag muss er sich sein Leben lang mit Schienen und Schrauben, mit Krankenhäusern, Therapien und Schmerzen befassen. Er wäre gerne ein Pilot geworden, der Touristen in fremde Länder fliegt, er wurde Chef einer Betriebskrankenkasse. Doch er war der einzige aus seiner Kompanie, der überlebte. Alle anderen 80 Piloten starben im Laufe des Krieges. Wanninger erzählt diese Geschichte auf seiner Terrasse, auf dem Tisch liegt ein Schild mit der Aufschrift "Paradies". Auf der Toilette hängt ein Zitat von Luther "Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz". Und Wanninger sagt: Ein Garten sei immer im Werden. Aber wenn er sich seinen heute so ansehe, finde er: "Er ist etwas geworden." Es klingt, als sei eine Aufgabe erfüllt.

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: