Süddeutsche Zeitung

Alltag und Kunst:Wenn der Cappuccino lächelt und das Backpapier zum Papyrus wird

Mit seinem Fotoprojekt "Ausversehenkunst" will der Grünwalder Produktdesigner Martin Hauenstein den Betrachter zu einer neuen Art des Sehens inspirieren. Es geht darum, das Besondere im Herkömmlichen zu erkennen.

Von Franziska Gerlach, Grünwald

Das Zitat auf der Internetseite von Martin Hauensteins Fotoprojekt stammt von keinem Geringeren als Obi-Wan Kenobi. "Deine Augen können dich täuschen, traue ihnen nicht!", hat der weise Jedi-Ritter einst gesagt, und Fans von Star Wars werden wissen, dass diese Warnung an den jungen Luke Skywalker ging. Beim gemächlichen Klicken durch die Fotos, die der Grünwalder Produktdesigner auf www.ausversehenkunst.de präsentiert, wird sich bei den meisten aber vermutlich ein gegenteiliger Effekt einstellen. Sie werden sich ermutigt fühlen, weiter klicken wollen, noch ein Foto und noch eins, frei nach dem Motto: Mal schauen, was es hier alles zu sehen gibt.

Bewusst täuschen will Hauenstein natürlich niemanden, es geht ihm um das Erkennen der Schönheit, die sich im Herkömmlichen und Unvollkommenen verbirgt. Genau ein Jahr ist es her, dass sich aus einer Idee das Fotoprojekt "Ausversehenkunst" zu entwickeln begann. Bei den meisten Motiven handelt es sich um Zufallsfunde, gewöhnliche Naturereignisse, Gegenstände und Dinge, die ihm in Grünwald oder anderswo auffallen. Und auf die er dann sein Smartphone oder die Spiegelreflexkamera richtet, weil er das Besondere, das er darin gesehen hat, mit anderen teilen möchte.

Für Hauenstein schält sich aus der Kruste eines Auflaufs das bekannte Hunde-Mosaik aus Pompeji heraus, er sieht einen Hasen durch die Wolken springen oder die Konturen einer Madonna in einer Baumrinde, Abdrücke auf Backpapier werden zum "Papyrus des Bäckers". Momentan befinde er sich in einem "Zwiespalt", ob er bei der Auswahl künftig "nur die besten" zeigen oder lieber eine größere Auswahl an Fotos in der Online-Galerie veröffentlichen solle, erzählt der Produktdesigner an seinem großen Schreibtisch mit dem großen Bildschirm darauf. Ein wenig Unterstützung werden wohl die meisten beim Betrachten der kunstvollen Fotografien benötigen. Vor einem goldbraunem Hintergrund schmiegen sich zarte Kreise aneinander? "Der Rest eines Caprese", sagt Hauenstein. Ein strahlend heller Ball im Mondlicht? "Die Lampe in der Auffahrt." Ein Stück Brezel? "Picassos Stier."

Viele Motive ergeben sich einfach so, völlig absichtslos und ohne einer Erklärung zu bedürfen werden sie zu Kunst, andere erfahren ihre besondere Ästhetik erst in der Nachbearbeitung. Im Fall des Videos, in dem ein Cappuccino zu lächeln beginnt, hat er diesen Effekt durch Einstreuen von Zucker in den Milchschaum erzielt. Als Designer sei man ständig mit der Erwartung konfrontiert, etwas revolutionär Neues zu erschaffen. "Daher habe ich die Fähigkeit, etwas zu sehen, was andere nicht sehen", sagt Hauenstein. 62 Jahre ist der Grünwalder alt. Und überzeugt, dass sich ein solcher Blick üben lasse. Dass auch andere lernen könnten, mit anderen Augen durch die Welt zu gehen.

Nach einer Ausbildung zum Feinblechner bei einem bayerische Autohersteller hat er an der FH München Industriedesign studiert, sein erstes Produkt als selbstständiger Designer war 1995 der "Superfeger" von Vileda, der gefühlt noch heute in jeder zweiten Besenkammer der Bundesrepublik steht. Für die Firma Alfi hat der Grünwalder in den vergangenen Jahrzehnten zig Isolierkannen gestaltet, von denen - so schätzt er - bis heute rund 3,5 Millionen verkauft wurden. Doch er gibt auch zu, dass sich die Aura der coolen Verwegenheit, die das Berufsbild des Designers früher mal umgab, verflüchtigt hat. Während der Pandemie, als die Auftragslage mau war, begann sich in Hauenstein die Lust zu regen, neben seiner Tätigkeit als Designer mal eine neue Art des Arbeitens auszuprobieren, freier und mit weniger Anspruch auf Perfektion. "Kreativität ist ja nicht auf Produktdesign beschränkt", sagt er.

Der Grünwalder federt vom Stuhl, ein Ästhet auf ganzer Linie, nackte Füße zu Jeans und schwarzem Pullover, läuft auf ein Sideboard zu. Ein Blatt Löschpapier liegt darauf, sein Füller hatte beim Unterschreiben von Rechnungen Tintenspuren hinterlassen. "Das ist quasi das Schlüsselblatt", sagt er, die Stimme mit heiligem Ernst aufgeladen. Denn beim Anblick der kleinen Tintenkleckse hatte Hauenstein vor vielen Jahren seinen persönlichen Schlüsselmoment: Er erlebte zum ersten Mal, wie sich ein ganz normaler Gegenstand in der eigenen Wahrnehmung in Kunst verwandelte, statt Tintenklecksen überzog nun die Anmut japanischer Schriftzeichen das Blatt. Im Designer begann sich der Künstler zu regen. Und das ist nun mal nicht dasselbe.

"Der Künstler macht die Sachen für sich, und wir machen sie für andere", sagt Hauenstein. Wendet sich ein Designer also der Kunst zu, entfernt er sich von der Direktive der Anforderungen, die Briefings per se enthalten. Zurückgeworfen auf die eigene Kreativität muss man plötzlich selbst entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Und so steht der Grünwalder, der über sich sagt, am besten unter Druck arbeiten zu können, nun da und lässt in sich die Überlegung reifen, in welche Richtung sich "Ausversehenkunst" entwickeln könnte. Klar ist: Er möchte die Menschen zu einer anderen Art des Sehens inspirieren, dazu, genauer hinzusehen. Belehren aber möchte er nicht. Doch ob er das Ergebnis des Fotoprojekts in einer Ausstellung präsentieren möchte, ob er Drucke fertigen oder die Bilder zu einem Kalender bündeln wird, das weiß er noch nicht. Für ihn sei das ja auch alles neu.

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