Porträt:Aufbruch in eine andere Welt

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In ihrem Haus in Gräfelfing sitzt die Kinderbuchautorin und Illustratorin Binette Schroeder auch mit 82 Jahren noch regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz, wo sie unter anderem Bilder für Bücher von Michael Ende entwarf. (Foto: Catherina Hess)

Die in Gräfelfing lebende Illustratorin und Kinderbuchautorin Binette Schroeder begann mit zwölf Jahren zu malen. Auch 70 Jahre später veröffentlicht sie noch surrealistische Werke.

Von Anna Lea Jakobs, Gräfelfing

"Ich hatte so viel Glück in meinem Leben", erzählt die Illustratorin und Kinderbuchautorin Binette Schroeder. Mit Nachdruck wiederholt die 82-Jährige diesen Satz mehrmals, während über ihrem Kopf Marionettenpuppen von der Decke baumeln. Das Gräfelfinger Haus der Künstlerin könnte selbst aus einem Kinderbuch stammen. Verschlungene Pflanzen und Tiere winden sich auf den Fliesen der Badezimmer und der Küche, die sie eigenhändig bemalt hat. "Das kann ich besser", dachte sie sich, nachdem sie beim Fliesenkauf nicht fündig geworden war. Den Sofastoff verzierte sie kurzerhand auch selbst; eine Enttäuschung im Textilgeschäft wollte sie sich ersparen. In jedem Raum befinden sich Ansammlungen von kleinen Gegenständen: Afrikanische Speerspitzen, sorgfältig aneinandergereiht auf einem Beistelltisch, oder Muscheln aus ihren Urlauben an der Nordsee.

In diesem Sammelsurium erschafft sie mit 82 Jahren noch immer ihre surrealistischen Bilder-Welten. Schroeders jüngstes Werk "Herr Grau und Frieda Fröhlich", in dem sich ein ungleiches Paar trotz oder gerade wegen seiner Gegensätze ineinander verliebt, erschien Ende August 2021. Es war das erste Kinderbuch, das sie mit Vorsatz angefangen hat. Sie wollte Kindern zeigen, dass die Trauer und die Fröhlichkeit zusammengehören. "Wenn alles grau ist, ist die Welt langweilig, aber wenn sie nur bunt ist, dann auch", gibt sie zu Bedenken.

Bis heute der Arbeitsplatz von Binette Schroeder in ihrem Haus in Gräfelfing. (Foto: Catherina Hess)

Wenn ihre Lebensgeschichte selbst in einem Bilderbuch veröffentlich werden würde, wäre auf der ersten Seite ein Kleinkind in Hamburg zur Zeit des zweiten Weltkriegs zu sehen. Geboren Ende 1939, verbrachte Binette Schroeder die ersten Jahre ihres Lebens in Deutschlands Norden. Dann erschien es ihrer Familie in der Großstadt nicht mehr sicher genug und sie zog ins oberbayerische Garmisch-Partenkirchen zu den Großeltern mütterlicherseits. Von da an versorgte ihr Großvater sie mit alten Kinder- und Kunstbüchern, die sie vorsichtig lesen durfte. "Ich bin in einer so schwierigen Zeit aufgewachsen, da waren Märchen ein kostbares Geschenk", erzählt Schroeder.

Mit zwölf Jahren malte sie dann ihr Erstlingswerk: "Kasperl reist nach Afrika". Eine Klosterschwester ihrer Schule in Garmisch-Partenkirchen entdeckte ihr Talent fürs Geschichten erzählen und hing ihr Bilderbuch im Treppenhaus auf. Heute ist es im Binette-Schroeder-Kabinett in der Internationalen Jugendbibliothek ausgestellt. Seit 2005 existiert die Dauerausstellung über ihr Gesamtwerk in dem Museumsdach der Münchner Einrichtung. Neben Illustrationen und einer Sammlung ihrer Bücher befindet sich dort auch ein mechanisches Miniatur-Theater, in dem sich einige Figuren aus ihren Bilderbüchern hin und her bewegen.

"Lupinchen" erscheint 1969 und wird mehrmals ausgezeichnet

Die Theaterwelt stand der Illustratorin schon früh durch ihre Mutter nahe, die als Kostümbildnerin in einem Münchner Theater arbeitete. Geprägt durch die mütterliche Künstler-Natur verließ sie mit 18 Jahren das oberbayerische Dorf und studierte fortan Gebrauchsgrafik an einer Privatschule in München. Dann zog es die junge Binette Schroeder in die Schweiz. An der damaligen Allgemeinen Gewerbeschule in Basel widmete sie sich für mehr als fünf Jahre der Gebrauchsgrafik, Typografie, Fotografie und Lithografie. Die Geschichten, die sie von ihrer Zeit in der Schweiz erzählt, könnten selbst aus einem Buch stammen. Lebhaft beschreibt sie das nächtliche Schreien der Tiere im Baseler Zoo, der direkt neben ihrer ersten Wohnung lag. Stundenlang skizzierte sie dort die Affen, Löwen und Paradiesvögel. "Ich habe gezeichnet und gezeichnet und gezeichnet", berichtet Schroeder.

Unverkennbare Licht- und Schattenverhältnisse, verträumte Atmosphäre prägen die Bücher von Binette Schroeder (Foto: Catherina Hess)

Zurück in Deutschland suchte sie den Kontakt zu Verlagen, damit ihre Geschichten veröffentlicht werden. "Mit bleischwerem Koffer und meinen Mappen stand ich auf der Buchmesse und traf auf einen Mann mit Schnauzer, serbischem Akzent und blitzeblauen Augen", erzählt die Künstlerin. Zwei Skizzenblätter von "Lupinchen" zeigte sie dem Vertreter vom Nord Süd Verlag und er wollte die Geschichte von der kleinen traurigen Puppe, die ein Abenteuer mit ihren Freunden erlebt, publizieren. Nach Veröffentlichung im Jahr 1969 erhielt das Bilderbuch internationale Aufmerksamkeit und wurde unter anderem mit einer Silbermedaille auf der Buchmesse in Leipzig und dem Prix Loisir in Paris ausgezeichnet. Bis heute ist es ein Klassiker der Kinderbuchliteratur, auch aufgrund seiner surrealistischen Bildsprache.

Für zwei Bücher von Michael Ende steuerte Binette Schroeder die Illustrationen bei

Ihre Werke erinnern an die Schöpfungen von Salvador Dali oder Max Ernst, der erste malende Surrealist. Durch die Gouache-Technik entstehen unverkennbare Licht- und Schattenverhältnisse, die den Bildern eine verträumte, fast schon widersprüchliche, Atmosphäre verleihen. Die Wunderland-Stimmung wird durch die Charaktere, die in Schroeders Büchern herumwandeln, noch verstärkt. Wie etwa in "Lupinchen", in dem die sprechende Box mit Armen Klappaufundzu oder Mister Humpty Dumpty, ein englisches Ei, vorkommen. "Viele Menschen wollen sich gerne in eine andere Welt hineinwagen", erzählt Schroeder. Kinder sollen in ihren unheimlichen Bildern wandern, sich verlieren, eine Beziehung zu ihnen aufbauen.

Neben "Lupinchen" umfasst ihr Oeuvre zahlreiche weitere Bilderbücher, die in insgesamt 20 Sprachen übersetzt wurden. Darunter auch "Die Vollmondlegende" und "Die Schattennähmaschine" von Michael Ende, die sie für den Bestseller-Autor illustrierte.

Häufig arbeitete sie auch mit ihrem Mann und Autor Peter Nickl zusammen, der den Text zu den Bilderbüchern beisteuerte. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 1997 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Das habe sie überrascht; sie selbst habe doch immer nur still vor sich hingearbeitet, erzählt die 82-Jährige. Dann macht sie eine kleine Pause und fügt schmunzelnd hinzu: "Aber stets mit Vergnügen!"

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