Wer in der S6 Richtung Würmtal sitzt und zufällig Zeuge der Freizeitplanung von Jugendlichen wird, dürfte eher nicht hören: "Hey Bro, gehen wir heute Abend auf ne Lesung?" Schon der Anteil der Unter-50-Jährigen, welche die Veranstaltungen der Literarischen Gesellschaft in Gräfelfing besuchen, ist eher gering, aber Mittzwanziger oder Teenager, die sich literarischen Live-Genuss gönnen, sind fast extraordinäre Erscheinungen. "Da gibt es schon eine Schwellenangst", sagt Klaus Stadler, erster Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft.
Gleichwohl wirken weder er noch sein Kollege Ulrich Rosenbaum bei der Vorstellung der neuen Saison in einem Gräfelfinger Lokal allzu kulturpessimistisch. Immerhin kann die 1921 gegründete Literarische Gesellschaft nicht nur auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken, sondern sich auch auf eine Mitgliederzahl von mehr als 400 und ein treues Stammpublikum stützen. Dass dieses dank seiner Haarpracht oft dem viel zitierten Silbersee gleicht - ja, das ist wohl so, aber durchschnittlich "plus minus 100 Besucher" bei Lesungen begrüßen zu dürfen, wie Stadler erklärt, ist doch eine respektable Nummer.
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Das liegt natürlich auch an den vielen prominenten Namen, die in Gräfelfing regelmäßig auf der Vortragsliste stehen, und entsprechend geben sich in den kommenden Monaten bekannte Protagonisten die Ehre. Nachdem der ursprüngliche Auftakt, der auf Donnerstag, 21. September, terminierte Vortrag des Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer ("Die Stunde der Physiker") wegen gesundheitlicher Probleme kurzfristig ausfällt, eröffnet nun Lena Gorelik am Mittwoch, 27. September, die Saison. Der 1981 in St. Petersburg geborene Schriftstellerin, die in den Neunzigern mit ihrer Familie nach Deutschland kam, gelang bereits mit ihrem Debütroman "Meine weißen Nächte" (2004) der literarische Durchbruch.
Ihr jüngstes, autobiographisch gefärbtes Buch "Wer wir sind", das sie auch in Gräfelfing vorstellen wird, wurde von der Kritik hoch gelobt, unter anderem für den besonderen Ton, den die Autorin für die Erzählung dieser ihrer Familiengeschichte findet, die als jüdische Kontingentflüchtlinge in der neuen Heimat quasi von vorne beginnen müssen. Eine Geschichte von Entwurzelung und sozialem Abstieg, Identitätssuche zwischen Scham und Stolz, Russland-Nostalgie und dem sukzessiven Aneignen einer fremden Sprache. "Man muss sie nicht großartig vorstellen, sie gehört zu den interessantesten jüngeren Autorinnen", schwärmt Stadler.
Ähnlich bekannt - wenn auch weniger als Autor, denn als Höhenbergsteiger und Extrem-Skifahrer - ist Hans Kammerlander, der am 15. November, nach Gräfelfing kommt. Der 1956 geborene Südtiroler hat indes auch erfolgreich Bücher veröffentlicht ("Bergsüchtig", "Am seidenen Faden"), unter anderem im Münchner Piper-Verlag, bei dem Stadler früher als Wissenschafts- und Sachbuchlektor arbeitete. "Ich kenne ihn schon sehr lange", sagt der Vorsitzende. Kammerlander, der als charismatischer Redner gilt, wird im Würmtal einen Vortrag mit Filmen und Bildern halten, der sich mit einer tragisch gescheiterten Expedition auf den Himalaya-Riesen Manaslu beschäftigt ("Manaslu. Der Geisterberg"). Kammerlander verlor bei dieser Tour 1991 zwei Freunde: einer stürzte ab, einer wurde vor seinen Augen vom Blitz getroffen. "Er hat eine Art, von seinen Abenteuern zu erzählen, die sehr beeindruckend ist", erklärt Stadler. Er hofft, mit der Bergsteiger-Größe auch jüngere Besucher anzulocken.
Das Kurt-Huber-Gymnasium fungiert als Ausweichbühne
Nicht im Himalaya, aber im ebenfalls gebirgigen Werdenfelser Land spielt der Roman "Heumahd", den die Autorin und Politik-Redakteurin Susanne Betz am 18. Oktober, vorstellen wird. Sie wohnt in Stockdorf, bringt also literarisches Würmtaler Lokalkolorit mit, und schreibt historische Romane. In "Heumahd" geht es um die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer jungen Frau, die in den 1880er Jahren als Witwe allein einen Bergbauernhof bewirtschaftet, und dem Maler Wilhelm Leibl - ein Exponent der Münchner Künstlerszene, aber ob seiner Homosexualität auch Außenseiter. "Ein moderner Heimatroman", urteilt Rosenbaum, der selbst Germanistik und Geschichte studiert hat. Diese Veranstaltung ist die einzige der Herbstsaison, die in der Gemeindebücherei stattfindet, zudem ist der Eintritt frei. Schauplatz der anderen Lesungen ist die Pausenhalle des Kurt-Huber-Gymnasiums, die während der Sanierung des Gräfelfinger Bürgerhauses als Ausweichbühne für Veranstaltungen der Literarischen Gesellschaft fungiert. Der Eintritt kostet normal zehn Euro.
Unter weiteren prominenten Vortragsprofis, die im Herbst auf der Liste der Literarischen stehen, sind mit Nele Pollatschek und Kai Strittmatter auch zwei Autoren, die für die SZ schreiben. Pollatschek stellt am 25. Oktober ihren Roman "Kleine Probleme - Wie schwer es ist, einfach zu leben" vor. Strittmatter, renommierter China-Experte, spricht am 8. November über die Herausforderungen, die das Machtstreben des Regimes von Xi Jinping mit sich bringen. Zudem nimmt der Gästeführer Georg Reichlmayr am 22. November das Publikum mit auf "Literarische Streifzüge durch die Münchner Stadtgeschichte" und die Journalistin Annemarie Stoltenberg wird am 6. Dezember unter dem Motto "Magie des Lesens" literarische Neuentdeckungen empfehlen. "Eigentlich ist es erstaunlich, dass die Buchwelt immer noch so funktioniert", konstatiert Stadler.
Das Programm entspricht in seiner Vielfalt jedenfalls wieder dem Ansinnen der Literarischen Gesellschaft ( www.literarische.de), zum Denken anzuregen, neben Belletristik auch Fragen der Politik, Naturwissenschaft und Weltanschauungen aufs Tableau zu bringen. Oder wie es Rosenbaum ausdrückt: "Erwachsenenbildung allgemein verständlich" anzubieten. Ein kleiner Anreiz noch für jüngere Besucher: Tickets für Schüler und Studenten sind kostenlos.