Gewalt unter Minderjährigen:Müssen sich Jugendliche gegen Messerangriffe verteidigen können?

Gewalt gegen Jugendliche: In einem Kurs in Neubiberg kann man lernen, sich gegen Messerangriffe zu verteidigen.

Zuletzt gab es in Deutschland so wenig Straftaten wie lange nicht - doch viele geben an, sich trotzdem nicht sicher zu fühlen.

(Foto: stz/ dpa)

Das Programm eines Kurses in Neubiberg klingt natürlich sinnvoll. Aber manche halten es für übertriebene Angstmacherei.

Von Christina Hertel

Der Junge, der jeden Nachmittag auf dem Spielplatz sitzt, der raucht, trinkt, kifft, der oft die Schule schwänzt, hat ein Messer in der Tasche. Ganz sicher. Vielleicht zückte er es schon einmal, wenn ihm jemand blöd kam. Und im Sommer auf dem Volksfest übergossen junge Männer einen anderen mit Benzin. Sie wollten ihn anzünden, sagen die Leute. Und irgendwo, es war nicht hier, es war in einer anderen Stadt, aber es kam im Fernsehen, zog ein Mann ein Mädchen, das gerade auf dem Heimweg war, in ein Gebüsch.

Baran und Albulen aus Oberschleißheim erzählen diese Geschichten - bei keiner waren sie selbst dabei. Sie haben keine Vergewaltigung gesehen, keine Messerstecherei und keinen Benzinanschlag. Aber es sind Dinge, die man sich eben so erzählt in ihrem Heimatort. Baran und Albulen, der eine schmächtig, der andere kräftig, sind 13 und zwölf Jahre alt. Sie sitzen im Oberschleißheimer Jugendzentrum in einem Bastelraum. Eigentlich heißen die beiden anders, aber ihre echten Namen sollen hier - wie die der anderen Jugendlichen, die in dem Text vorkommen - nicht stehen, weil es um ein Thema geht, das heikel ist: Gewalt, die sie selbst erfahren oder ausgeübt haben.

Für Jugendliche wie sie, die älter als elf Jahre sind, bietet die Volkshochschule Südost in Neubiberg im Februar einen Selbstverteidigungskurs gegen Messerangriffe an. Jungen und Mädchen sollen an vier Abenden lernen, wie sie sich gegen Messerangreifer wehren können - zum Beispiel mit Alltagsgegenständen wie einer Wasserflasche oder einem Kugelschreiber, heißt es online in der Beschreibung zu dem Kurs. Der Leiter des Oberschleißheimer Jugendzentrums Deniz Dadli ist über das Angebot empört. Es werde eine Gefährdung suggeriert, die es so im Landkreis nicht gebe. "Eltern und Jugendlichen wird Angst gemacht." Im schlimmsten Fall würden Ressentiments geschürt - denken die meisten bei dem Thema doch an messerstechende Migranten, wie von Rechtspopulisten oft behauptet.

Christof Schulz, der Leiter der Volkshochschule, sagt jedoch: "Dass wir den Kurs anbieten, hat nichts mit dem Thema Migration zu tun." Dass sich Kinder und Eltern vor Messerstechern fürchten müssten, glaube er nicht. Viel mehr gehe es bei dem Angebot um Organisatorisches: Früher sei das Thema Messerangriffe Bestandteil eines Selbstverteidigungskurses gewesen, der sich über mehrere Wochen erstreckt hat. "Wir haben festgestellt, dass sich Kinder nicht so lange verpflichten möchten." Daher sei der Punkt ausgelagert. Schulz klingt am Telefon fast so, als sei ihm das Ganze ein bisschen unangenehm. Der zwölfjährige Albulen hingegen sagt, er würde den Kurs gerne besuchen: "Dann könnte ich Frauen verteidigen, wenn sie von einem Mann ins Gebüsch gezogen werden."

Dabei ist Deutschland ein so sicheres Land wie seit 25 Jahren nicht: 5,76 Millionen Straftaten gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2017 - das ist der niedrigste Wert seit 1992. Es gibt weniger Einbrüche, weniger Körperverletzungen, weniger Mord und Totschlag. Doch das Gefühl der Menschen ist ein anderes: 44 Prozent geben an, sich in Deutschland heute weniger sicher zu fühlen als noch vor einigen Jahren. Und wenn man den Teenagern Baran und Albulen zuhört, spürt man schnell: Offensichtlich geht es ihnen nicht anders als den Erwachsenen.

Auch hier in der Region sind Situationen, in denen sich Albulen gegen Messerstecher zur Wehr setzen müsste, wohl eher selten: Die Polizei führt darüber zwar keine gesonderte Statistik, doch laut der Pressestelle ist in diesem Bereich derzeit kein Schwerpunkt erkennbar. Die Zahl der schweren und gefährlichen Körperverletzungen, wozu auch Messerangriffe zählen, sei im Raum München zwischen 2013 und 2017 um 11,6 Prozent zurückgegangen. Vor fünf Jahren verzeichnete die Polizei 3 630 Fälle, vergangenes Jahr waren es 3 208.

Viele Fälle von Gewalt gegen Jugendliche habe es im JUZ Taufkirchen nicht gegeben, sagt Robert Laufmann.

Robert Laufmann, der Leiter des Jugendzentrums in Taufkirchen, sagt, er habe in mehreren Jahren nur einmal eine Schlägerei schlichten müssen.

(Foto: Claus Schunk)

Deniz Dadli sagt, in den vergangenen 25 Jahren, in denen er im Oberschleißheimer Jugendzentrum arbeitet, habe er noch nie jemandem ein Messer abnehmen müssen. Auch Schlägereien seien kein Thema. "Jeder erzählt irgendetwas herum und zu 80 Prozent stellt sich heraus, dass es nicht wahr ist." Ähnliches berichtet Dadlis Kollege Robert Laufmann. Er leitet das Taufkirchner Jugendzentrum, das ihm zufolge jeden Tag zwischen 50 und 60 Teenager besuchen. In den vergangenen vier Jahren habe er ein einziges Mal bei einer Schlägerei dazwischen gehen müssen.

Zur Gewalt unter Jugendlichen zählt auch Cyber-Mobbing

Doch das heißt nicht, dass körperliche Gewalt bei Jugendlichen im Landkreis keine Rolle spielt. In Oberschleißheim erzählt ein 19-Jähriger, dass er eine Zeit lang immer ein Messer in der Tasche mit sich getragen habe. Alle paar Monate sei er in eine Schlägerei verwickelt. Auch in Taufkirchen muss man nicht lange fragen, bis die Jugendlichen erzählen, wann sie sich das letzte Mal geprügelt haben. Die meisten der Schlägereien, von denen die Jugendlichen erzählen, passieren allerdings nicht in den Jugendzentren, sondern im Nachtleben. Das ist typisch: Bei fast einem Drittel der gefährlichen und schweren Körperverletzungen, die 2017 begangen wurden, standen die Täter unter Alkoholeinfluss.

Ein größeres Problem als Messer und Schlägereien sei Mobbing im Internet, sagt Hans Röthlein. Er leitet den Landesverband bayerischer Schulpsychologen und beobachte: Statt sich zu prügeln, würden sich immer mehr Kinder gegenseitig in den sozialen Netzwerken fertig machen. "Die Hemmschwelle liegt dort tiefer", sagt der Psychologe. Er höre immer häufiger, dass Mitschüler von anderen kompromittierende Bilder verbreiten. Oder damit drohen. "Der Umfang ist besorgniserregend." In seinen Augen ein großes Problem: "Seelische Wunden heilen oft langsamer."

Im Taufkirchner Jugendzentrum, wo an einem Dienstagnachmittag sechs Kumpels, alle um die 19 Jahre alt, zusammensitzen, kennt jeder ein Mädchen, von dem Nacktbilder verbreitet wurden. "Die Marie", sagt einer, "war komplett im Arsch danach." "Die wollte sich schon umbringen", sagt ein anderer. Auch Laufmann, der Leiter der Einrichtung, weiß von Mädchen, denen das passiert ist, die dann bei seiner Kollegin weinend im Büro saßen. "Wir ermutigen sie, zu Polizei zu gehen", sagt er. "Mehr können wir nicht tun."

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