Erinnerung an NS-Opfer:Warnung vor Rückfall in vergangene Zeiten

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Susanne Meinl (re.) hat in anderthalb Jahren das Gedenkbuch erarbeitet. Andrea Berlin-Zinkhahn (li.) stammt aus einer betroffenen Familie. (Foto: Claus Schunk)

In einer bewegenden Gedenkveranstaltung stellt die Historikerin Susanne Meinl ihr Buch aus der Reihe Pullacher Lebenswege vor. Sie hat die Geschichte der antisemitisch verfolgten Bevölkerung aufgeschrieben

Von Kaja Weber, Pullach

Emilie und Gertrud Rescher. Magdalena und Martin Mugdan. Franz und Katharina Pollitzer. Lothar und Marion Meyer. Sie alle waren Bürger Pullachs, und Opfer antisemitischer Verfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Gemeinde gedenkt ihrer nun in einem neuen Band der "Pullacher Schriftenreihe" mit dem Titel "Lebenswege", der am Donnerstagabend im Bürgerhaus vorgestellt wurde. Sechs der mehr als 30 im Buch zusammengetragenen Biografien wurden dort in kurzen Lesungen präsentiert.

Als Juden oder zu Juden erklärt verloren sie Besitz und Arbeit, die Teilhabe an der Gesellschaft, wurden von Partnern getrennt und in manchen Fällen kamen sie zu Tode. Vielen gelang es, aus Pullach zu fliehen, berichtete Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund in ihrer Begrüßungsrede. Einige fanden im Exil eine neue Existenz, andere fühlten sich entwurzelt.

Ein trauriges historisches Zeugnis ist etwa der Brief von Franz Pollitzer an seine Frau, den er 1942 im Internierungslager St. Sulpice, Südfrankreich, schrieb. Er gibt sehr nüchtern Anweisungen zu seinem Nachlass und gut gemeinte Hinweise dazu, wie sie sich um ihre Gesundheit kümmern solle - und fügt dann an: "Vorläufig habe ich immer noch Hoffnung, gleich zurückzukommen." Der Brief blieb sein letztes Lebenszeichen. Ein anderer Schriftwechsel, der sich im Buch wiederfindet, ist der zwischen Lothar und Marion Meyer und dem Landesentschädigungsamt München. 1959 setzten sie sich mit dem Amt darüber auseinander, ob die Umstände ihrer Flucht und ihr Leben in der Illegalität in den Vierzigerjahren als "menschenunwürdig" angesehen und finanziell entschädigt werden. Das Amt wollte die Anerkennung verweigern. Zwei Jahre lang waren die Meyers bei niederländischen Freunden untergetaucht, mussten 31 Mal ihr Versteck wechseln, litten an Unterernährung.

Vorgetragen wurden die Schriftstücke unter anderem von Schülern des Otfried-Preußler-Gymnasiums und Mitgliedern des Pullacher Geschichtsforums sowie der Autorin Susanne Meinl selbst. Eineinhalb Jahre hatte sie an dem Buch gearbeitet, das sie explizit nicht als "Totenbuch", sondern als "bürgerschaftliches Projekt" bezeichnete. Angestoßen auf Wunsch der Bürgermeisterin ist es in Kooperation zwischen Gemeinderat, Geschichtsforum und Gemeindearchiv entstanden. Für das Buch wurden Angehörige aus aller Welt ausfindig gemacht, die Material lieferten. Einige von ihnen waren am Donnerstag im Saal - aus München, Basel oder Stuttgart angereist. Das Buch gibt nicht nur die Lebensläufe der Verfolgten wieder. Es liefert eine geschichtliche Einordnung, nimmt Aussagen der Angehörigen auf, unterstreicht das Beschriebene mit Originaldokumenten und Alltagsfotografien.

Durch diese Umsetzung würden die Beschriebenen "wieder zu dem, was sie waren: ganz normale Menschen", sagte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die an der Veranstaltung teilnahm. Sie nutzte den Abend für kritische Kommentare zur gegenwärtigen politischen Situation. Die "Pullacher Lebenswege" seien "heute so wichtig wie selten zuvor", in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gebe, die von ihren Erfahrungen berichten könnten. Eine wichtige Aufgabe sei es zu verhindern, dass das Erinnern nur zum Pflichtprogramm werde, so Knobloch. Auch junge Leute müssten weiter unmittelbaren Zugang zum damaligen Geschehen haben. Sie könnten stolz auf ihr demokratisches, friedliches und freies Land sein, meinte sie. Anzunehmen, dass der Ist-Zustand unverändert so bestehen bleibe, sei sehr gefährlich in einer Zeit, in der "jede Wahl zugleich eine Abstimmung für oder gegen einen Rückfall in längst vergangene Zeiten" sei. "Geschichte muss sichtbar bleiben", sagte sie.

Das möchte auch Meinl umsetzen. Im nächsten Frühjahr wird es eine Radtour geben, die sich an den Biografien der vorgestellten Pullacher orientiert. Zudem seien viele Geschichten bis jetzt noch nicht druckreif gewesen, andere könne man vertiefen - sie kann sich daher eine weitere Publikation zum Thema vorstellen.

© SZ vom 13.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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