Süddeutsche Zeitung

Garchinger Kindergarten:"Die Kastanien sind das Geld"

Im neuen Naturkindergarten der Arbeiterwohlfahrt gibt es kein fertiges Spielzeug. Die Mädchen und Buben behelfen sich mit Zapfen, Früchten oder Holz aus dem Garten - und mit viel Fantasie

Von Gudrun Passarge, Garching

Die Auslage auf dem Baumstamm ist gut bestückt. Da liegen Tannenzapfen, Holzstückchen, ein kleiner Zweig, ein Blatt, ein verschrumpeltes Äpfelchen. "Die Kastanien sind das Geld", verkündet Paul, eine Idee, die von den anderen sofort akzeptiert wird. Die Mädchen kommen mit der Schubkarre oder mit blanken Händen, um bei Paul einzukaufen und mit Kastanien zu bezahlen. Kaufladen à la Naturkindergarten, aufgefüllt mit allem, was das idyllische Grundstück am Rande Garchings zu bieten hat. Seit September gibt es die neue Gruppe. Träger ist der Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt, Leiterin ist Isabel Nefzger. "Wir haben kein reguläres Spielzeug", erklärt sie, "die Natur bietet den Kindern alles, um zu lernen und sich zu entfalten. Unsere Aufgabe ist es, sie zu beobachten und zu begleiten".

Nefzger hat Erfahrung mit solchen Einrichtungen. Sie hat eine Montessori-Ausbildung gemacht mit dem Schwerpunkt auf Natur. "Ich war jeden Tag mehrere Stunden draußen", sagt sie. Das gefiel ihr so gut, dass sie sogar selbst einen Naturkindergarten in Freising gründen wollte. Doch es gab bürokratische Hemmnisse und das Projekt scheiterte, da kam ihr das Angebot aus Garching gerade recht. Hier habe sie den sicheren Rahmen des Trägers und einer Stadt, die dem Projekt sehr wohlwollend gegenüber stehe. So war es auch Bürgermeister Dietmar Gruchmann (SPD), der das Grundstück gefunden hat. Gut 3000 Quadratmeter, die Otto Sondermayer gehören. Zusammen mit seiner Frau Katharina ist er gerade damit beschäftigt, Büsche zu beschneiden und Unkraut zu entfernen. Die Kinder hüpfen um ihn herum, manches mag helfen und darf auch mal ein paar Äste wegtragen.

"Der Herr Sondermayer ist so etwas wie ein Besuchsopa", erzählt Nefzger. "Die Kinder sagen Otto zu ihm." Dem Besuchsopa steht diese Rolle gut zu Gesicht. Ständig ist eine kleine Kinderschar um ihn herum. Er habe nur kurz mit seiner Frau überlegen müssen, als der Anruf vom Bürgermeister kam, sagt er. "Eigentlich waren wir immer nur hier, um zu arbeiten. Jetzt ist halt was los." Erzieherin Hannah Höfer hat gleich noch eine Bitte. Vielleicht könnte er einen Ast zerstückeln, damit die Kinder kleine Holzstückchen haben: "Damit spielen sie so gerne." Die Wahl fällt auf den Ast eines hohen Buschs, der eigentümlich gewachsen ist. "Hier spielen die Kinder immer Piratenschiff", sagt Höfer, und vor dem inneren Auge entsteht förmlich das Bild eines Piratenschiffs mit gehisster Flagge und bunt bemützten Piraten, die auf der Suche nach Abenteuern und neuer Beute über das Meer schippern.

Zehn Kinder besuchen den Naturkindergarten momentan, etliche sind schon angemeldet für nächstes und übernächstes Jahr. Die Kinder sind alle gut eingepackt, in der Nacht war es schon recht zapfig, aber jetzt am Tag scheint die Sonne und verbreitet noch späte Herbstwärme. "Wir könnten heute draußen essen", sagt Isabel Nefzger und zeigt auf die lange Tafel. Die Bänke aus Holz haben die Mitarbeiter selbst gemacht, die Tische stammen aus einer aufgelösten Flüchtlingsunterkunft. "Wir haben einfach die Beine gekürzt."

Beim Rundgang über das Gelände wird schnell klar: Es ist alles da, was im Kindergartenalltag gebraucht wird. Da ist etwa der Bauwagen als trockenes Plätzchen oder zum Aufwärmen. Maßarbeit, die nach den Wünschen der Erzieher gefertigt wurde, die Stadt hat ihn bezahlt. Außerdem hat sie dem Kindergarten noch ein Lastenfahrrad für Transportwege spendiert. Dann ist da noch die Biokompost-Toilette - von außen ein klassisches Plumpsklo mit Herzerl in der Holztür. Die Ausscheidungen landen in einem Fach mit Erde, die die Kinder mit ihren Schubkarren selbst vom Komposthaufen geholt haben, und die nach einiger Zeit wieder ausgetauscht wird. Das Holzhäuschen mit Fenster an der Seite haben die Eltern selbst gebaut - ein Handwerker, ein Opa, ein Freund, es gab viele zupackende Hände. "Die Atmosphäre hier ist wie in einer Elterninitiative", sagt die Leiterin. Gerade was den Zusammenhalt angehe.

Einmal in der Woche kommt eine Reittherapeutin mit Schneewittchen vorbei, einem kleinen Pony. Auch das war ein Vorschlag der Eltern, wie Nefzger erzählt, "ich wollte nichts Elitäres". Es sei eine Testphase. Für sie sei wichtig, dass die Finanzierung geregelt ist und nicht jemand sagen müsse, er könne sich das nicht leisten. Deswegen steht auch eine Sammelbox da, in die jeder etwas einwerfen kann. Den Kindern jedenfalls gefällt's. Tiere sind überhaupt ein großes Thema im Kindergarten, genau wie Pflanzen und ihre Früchte. Da sind die Äpfel, die vom Baum fallen, die Zapfen und Hagebutten, da sind die Spinnen. "Wie viele Beine haben wir da gezählt?", fragt Nefzger. "Sechs", kommt die spontane Antwort eines Kindes. Nefzger erklärt den Unterschied zwischen Käfern und Spinnen. Beim nächsten Mal wird die Antwort wohl richtig ausfallen. Und da sind Lina und Hannes, die Eichhörnchen, die auf dem Gelände herumtoben. Es ist immer was los und jeder hat etwas zu tun. Zwei Buben pflanzen gerade einen Stecken ein, einige Mädchen spielen mit den zwei Seilen Pferd. Ein Mädchen steht etwas abseits. "Das ist jetzt noch die große Frage: Wer darf mitspielen? Die Gruppe muss sich erst finden", sagt Nefzger. Dass es in der Gruppe auch einen Inklusionsplatz gibt, ist der Leiterin ein besonderes Anliegen. Der Junge kann nicht so schnell laufen wie die anderen, das habe sie der Gruppe erklärt. Jeder habe Dinge, die er gut und weniger gut könne. "Die Kinder lernen, Rücksicht zu nehmen", sagt Nefzger und erinnert an das Zitat von Richard von Weizsäcker: "Es ist normal, verschieden zu sein."

Sie glaubt daran, dass die Kinder dieser Gruppe, die mit Verschiedenartigkeit aufwachsen, einmal tolerante Menschen werden. Ihr fällt noch ein Zitat ein, das sie für den Kindergarten, die Natur und ihre Haltung sehr passend findet. Es stammt von Friedrich Fröbel, dem Erfinder der Kindergärten. Er hat gesagt: "Kinder sind wie Blumen. Man muss sich zu ihnen niederbeugen, wenn man sie erkennen will."

Wie die Blumen sitzen die Kinder dann im Morgenkreis. Nefzger spielt Gitarre, einige singen voller Inbrunst mit, andere eher verhalten: "Der Herbst ist da, heiahussassa." Es ist ein Morgenkreis, wie er wohl in vielen Kindergärten stattfindet, mit Liedern, kleinen Spielen und Informationen über die Jahreszeit. Nur dass die Kinder auf Unterlagen im Gras sitzen und Lina gerade von Ast zu Ast hüpft, ist etwas außergewöhnlich. Sophie hat die Eichhörnchenfrau entdeckt und freut sich. Woher weiß sie, dass es Lina ist und nicht Hannes? Aber eigentlich ist das ja egal. Wichtig ist: Hier unter diesem blauen Himmel haben die Kinder viel Spaß, auch beim Lernen.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2019
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