Süddeutsche Zeitung

Wissenschaft:"Tausendmal wichtiger als Forschung"

Die Virologin Ulrike Protzer, der Philosoph Johannes Wallacher und der ehemalige TU-Präsident Wolfgang Herrmann reden beim Jubiläum der "Garchinger Gespräche" auch über den Wert guter Kommunikation in der Coronakrise

Von Irmengard Gnau, Garching

In einem waren sich die Experten einig: Nein, mit den verantwortlichen Politikern würden sie dieser Tage nicht tauschen wollen. Als renommierten Wissenschaftlern kommt den drei Teilnehmern der Diskussionsrunde am Dienstagabend im Garchinger Bürgersaal gleichwohl ebenfalls eine gewichtige Rolle zu in der Corona-Pandemie. Ulrike Protzer, die Direktorin des Instituts für Virologie der Technischen Universität München sowie des Helmholtz Zentrums München, Johannes Wallacher, der Präsident der Hochschule für Philosophie mit den Fachgebieten Ökonomie und Philosophie, und der studierte Chemiker und langjährige TU-Präsident Wolfgang Herrmann beraten politische Entscheidungsträger, arbeiten an Zukunftsprognosen und Modellen für eine Zeit nach Corona und informieren die Öffentlichkeit über die Risiken und Hintergründe des Virus.

Das Coronavirus und seine Auswirkungen dominieren die Nachrichten weltweit. Auch die "Garchinger Gespräche" kommen an ihrem Jubiläumsabend nicht daran vorbei. Vor 30 Jahren riefen Michael Grabow, der damalige Pfarrer der evangelischen Laudate-Kirche in Garching, und Studentenpfarrer Hermann Probst die Gesprächsreihe ins Leben, um den Forschungscampus und die Stadt sich gegenseitig näherzubringen. Seither hat sich das Format zu einem respektierten Forum entwickelt, auf dem Wissenschaft und Gesellschaft fachkundig und zugleich ungezwungen in den Dialog treten. Da die Garchinger Gespräche von Anfang an "ganz nah am Puls der Zeit" gewesen sind, wie Festredner Grabow erinnerte, war es nur stimmig, dass sich zum Jubiläum im Bürgerhaus Garching mit Protzer, Wallacher und Herrmann drei Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen der Frage widmeten: Wie kann Wissenschaft dazu beitragen, dass wir diese Krise gut überstehen?

Neben den regen Forschungstätigkeiten von Medizinern, Biologen und Chemikern an dem Virus selbst ebenso wie an einem möglichen Impfstoff obliegt Wissenschaftlern die Aufgabe der Wissensvermittlung: Sie sind es, die als Experten den Bürgern erklären können, welche Risiken Covid-19 ihrer Einschätzung nach birgt und welchen Nutzen bestimmte Verhaltensweisen haben. Insbesondere Virologin Ulrike Protzer ist in den vergangenen Monaten zu einem der Gesichter geworden, die am häufigsten von Nachrichtenmedien um ihre Meinung und Expertise gebeten werden. Dazu sei sie gerne bereit und sehe sich auch dazu verpflichtet, sagt die Professorin, gibt aber zu, beim dritten Fernsehtermin am Tag werde es doch anstrengend.

Zudem brauche es viel Zeit, um eine möglichst breite Öffentlichkeit möglichst gut zu informieren, jedoch sei diese mehr als gut angelegt, meint Herrmann: "Das, was Sie, Frau Protzer, jetzt machen, ist tausendmal wichtiger als ein wissenschaftliches Forschungsprojekt." Insgesamt bringe die Erfahrung der Pandemie auch einige durchaus nützliche Erkenntnisse mit sich, konstatieren die Diskutanten. "Corona macht klar: Alles hängt mit allem zusammen", sagt Wallacher. Dadurch nehme auch das Bewusstsein zu, dass man aus verschiedenen Perspektiven auf Probleme blicken müsse. Dazu gehört die Diskursfähigkeit, die Herrmann gerade an den Universitäten noch stärker gefördert sehen möchte. Dazu zählt aber auch, den Dialog mit Menschen, die Hygienevorschriften anzweifeln, nicht abreißen zu lassen und ihnen eine Chance zu geben, in die Mitte der Gesellschaft zurückzurutschen. Auch wenn dies Anstrengungen erfordert. "Ein einfaches "Zurück" wird es nicht geben. Es wird etwas Neues wachsen müssen", sagt Wirtschaftsphilosoph Wallacher.

Insgesamt halten alle drei Experten Deutschland für gut gerüstet, um ohne tiefergreifende Schäden aus der Krise hervorzugehen, unter anderem dank des hohen Stellenwerts, den die Wissenschaft hierzulande bei der Politik genieße. Die Krise biete auf diese Weise auch Chancen: Populisten würden enttarnt, das Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit könne die Selbstreflexion befördern. Nicht zuletzt erlebt der Solidaritätsgedanke in der Krise eine Renaissance. Das macht Hoffnung. "Damit können wir auch den Klimawandel angehen", sagt Protzer.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2020
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