Garching:Sonnenbriefe an die Toten

Garching: Die Kinder haben ihre Gedanken auf durchsichtige Folien geschrieben und gemalt.

Die Kinder haben ihre Gedanken auf durchsichtige Folien geschrieben und gemalt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wie gehen Kinder mit dem Tabuthema Tod um? In einem Kunstprojekt verfassen Grundschüler Briefe an Verstorbene - und offenbaren beeindruckende Einblicke in ihre Gedankenwelt. Ein Besuch.

Von Gudrun Passarge

Die Engel fliegen um einen herum und grüßen freundlich, wenn sie vorbeikommen, und die Wolken dienen als Taxis, um zügig von einem Ort zum anderen zu gelangen - so stellen sich Schüler der vierten Klasse der Grundschule Garching West das Jenseits vor. Sie haben sich mit ihrer Lehrerin Christina Hasch intensiv mit dem Thema Tod und Sterben auseinandergesetzt.

Am Schluss haben die Viertklässler Briefe an Verstorbene geschrieben. Sie tragen Anreden, wie "Liebe Oma", "Liebe zwei Brüder" oder auch "Liebe Katzen". Es sind "L(i)ebensbriefe", Botschaften an Menschen und Tiere im Jenseits, oder wie ein Kind es ausdrückt: "Ein Sonnenbrief an die Toten."

"Ich hoffe, du bist in meinem Teddy"

Die Konzentration im Raum ist mit Händen zu greifen. Zehn Kinderköpfe sind über die transparente Folie gebeugt, mit dem weißen Spezialstift schreiben die Schüler Buchstaben auf die Unterlage oder malen Herzen, Menschen, Kreuze und Engel um ihren Text herum. Sanfte Meditationsmusik umarmt die Gedanken, sonst ist es ganz still. Am Fenster hängen schon einige der fertigen "Liebensbriefe".

Wie der zum Beispiel: "Liebe Oma, ich vermisse Dich sehr. Ich mache eine nicht so schöne Zeit durch. Ich hofe du bleibst in meinem Herzen. Wenn ich Probleme habe, hofe ich, das du mir hilfst. Und wie ist es so? Ich wünschte, du kannst mir antworten."

Andere sind noch dabei zu schreiben. Ein kleines Mädchen mit indischen Wurzeln schreibt an ihren geliebten Opa: "Ich hoffe, du bist in meinem Teddy." Den Teddy, so erzählt sie, habe ihr der Opa geschenkt, als sie im Krankenhaus operiert werden musste. Sie hat ihn immer bei sich, auch jetzt sitzt er auf dem Pult und schaut zu. Das Mädchen nimmt den Teddy, um ihn zu herzen, dann kehrt er wieder zurück auf seinen Platz am Pult.

Auf der Welt, um zu leben

Sterben und Tod, für viele Erwachsene ist das ein Tabuthema, eines, das sie weit von sich schieben. Lehrerin Christina Hasch empfand es als Herausforderung, mit den Kindern auf der Gefühlsebene zu arbeiten und um die existenziellen Lebens-Fragen zu ringen. Sie hat sich viel Mühe gegeben, die Kinder in das Thema einzuführen. Zusammen haben sie einen Film angeschaut, der die Frage aufwarf, "warum bin ich auf der Welt".

Die Kinder erinnern sich gut. Da gab es einen, der habe gesagt, "ich bin auf der Welt, um mich lieb zu haben", ein anderer habe gesagt, "ich bin auf der Welt, um einen anderen lieb zu haben". Auch das Thema Tod wurde angesprochen. Dabei, so berichten die Kinder nachher, seien sie zu dem Ergebnis gekommen, sie sind nicht auf der Welt, um zu sterben, sondern "ich bin da, um zu leben".

Bei den Diskussionen am Anfang hatte die Lehrerin auch die Sterbekarte ihres Großvaters dabei, das wissen die Kinder noch genau, und Christina Hasch erzählt, "wir hatten alle Tränen in den Augen". Leben, Sterben und was kommt danach? Da hat sich jedes Kind seine eigenen Gedanken gemacht, die alle gerne mit der Klasse teilen. Ganz offen sprechen sie über Himmel und Hölle, darüber, wie sie sich ein Leben nach dem Tod vorstellen.

Vorstellung von wechselnden Identitäten

Garching: Lehrerin Christina Hasch hat mit ihren Schülern am Projekt L(i)ebensbriefe teilgenommen.

Lehrerin Christina Hasch hat mit ihren Schülern am Projekt L(i)ebensbriefe teilgenommen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

So erzählen einige Schüler von ihrer Vorstellung, ihre Familie von den Wolken aus auf der Erde beobachten zu können. Ein Junge sagt, "jede Familie hat ihr eigenes Dorf im Himmel", ein Mädchen stellt sich vor, im Paradies alle Wünsche erfüllt zu bekommen: "Wenn ich einen Lolly will, bekomme ich den, und wenn ich mir ein Haus wünsche, dann bekomme ich das." Ein Junge dagegen hat die Vorstellung von wechselnden Existenzen. Mal komme der Mensch als Chamäleon auf die Welt, dann vielleicht als Elefant und immer so weiter.

Ein anderer sagt, im Paradies könne er sich auch wünschen, sieben Verwandte, die in der Hölle sind, rauszubekommen. Sehr diszipliniert sitzen die Kinder auf dem Boden im Kreis und erzählen sich ihre Gedanken. Sie melden sich, wenn sie etwas dazu sagen wollen, die Kinder, die gerade gesprochen haben, rufen die anderen auf. Allen ist anzumerken, dass sie sich ernsthaft mit den Themen beschäftigt haben.

Das Ergebnis sind die L(i)ebensbriefe, ein Projekt, dass die Pasinger Kunstpädagogin Marielle Seitz entwickelt hat. Die Kinder können sich damit direkt an Verstorbene wenden und ihnen ihre Gedanken mitteilen. Bereits im vergangenen Jahr hat die Grundschule West sich mit einer zweiten Klasse an dem Projekt beteiligt. Rektorin Susanne Norkauer berichtet, dass es für die Kinder ein sehr guter Weg war, mit dem Thema umzugehen.

Sie habe die Liebensbriefe in das soziale Projekt "Ich, du, wir. Frieden mit mir und mit anderen" eingebettet, das über das ganze Schuljahr lief. In der zweiten Klasse habe es aber kaum Kinder gegeben, die in ihrer eigenen Umgebung schon mit dem Thema Tod in Berührung gekommen waren. Doch ihre Briefe seien den Zweitklässlern sehr wichtig gewesen, "sie wollten die Folien mit nach Hause nehmen und ans Fenster hängen. Die Kinder haben sich da sehr verstanden gefühlt", sagt die Rektorin.

Christina Hasch macht in ihrer Klasse ganz ähnliche Erfahrungen. Sie berichtet etwa von dem Kind, das Probleme mit der Rechtschreibung hat. Doch beim Liebensbrief staunt die Lehrerin: "Es ist sehr gut geworden. Da merkt man, es war ihm sehr wichtig." Das bestätigen auch die Kinder im Stuhlkreis. "Es hat mir gut getan. Es war schön, dass man mal seine Gefühle aufschreiben kann", sagt ein Junge. "Und man kann immer draufgucken, auf das Bild", ergänzt ein anderer.

Ein Mädchen berichtet, sie hätte das Gefühl gehabt, "mein Opa würde vor mir stehen und ich rede mit ihm". Unter ihren Brief hat sie sich selbst und ihren Opa gezeichnet, verbunden durch eine Schnur von Hand zu Hand. "Das ist unsere Verbindungslinie", hatte sie der Lehrerin erklärt, als sie ihren Brief abgegeben hat. "Ich bin immer in Verbindung mit ihm."

Traurige Geschichten und positive Gedanken

"Ich habe mich besser gefühlt danach", sagt ein Junge, "ich konnte rauslassen, was mich bedrückt". Ein Mädchen erzählt, dass das Thema in der Familie eher vermieden werde. "Da reden wir nicht so offen drüber, weil sonst alle so traurig sind", sagt sie. Aber in der Klasse konnten alle frei reden. Der Lehrerin ist das bewusst. Sie ist angetan davon, wie sehr sich die Kinder geöffnet haben. Allerdings hat sie dafür einen vertrauenswürdigen Rahmen schaffen müssen, in der Klasse müsse es stimmen. Deswegen hat Christina Hasch auch ein Lob für die Kinder: "Meine Klasse ist sehr liebenswert in der Hinsicht und die Kinder fangen sich gegenseitig auf, wenn diese traurigen Geschichten erzählt werden."

Traurige Geschichten, bei denen die Kinder meist einen positiven Gedanken hinterherschieben. Etwa dass sich Verstorbene im Himmel wiedersehen oder auch ganz einfach den frommen Wunsch: "Liebe Oma, ich hoffe, du hast ein schönes Leben."

Grüße flattern im Wind

Ein wildes, blutiges Halloween-Spektakel in einem italienischen Supermarkt hatte Marielle Seitz 2013 dazu animiert, dem etwas entgegenzusetzen. Etwas, das die Kunstpädagogin als kindgerechter empfindet und das mehr in die Tiefe geht. Damals entstand ihr Konzept für die L(i)ebensbriefe: Botschaften von Kindern an Menschen und Tiere, die nicht mehr auf Erden weilen. Die Leiterin des Instituts für Kreativität und Pädagogik in München versteht ihre Aktion als sinnvolle Kommunikation der Kinder mit den Toten auf verschiedenen Ebenen. Sie nimmt transparente Folien, wie sie in Blindeneinrichtungen zum Schreiben oder Zeichnen verwendet werden, und lässt die Kinder mit weißem Stift ihre Nachrichten ans Jenseits schreiben. Tausende Kinder, unabhängig von ihrer Religion, haben schon an der Aktion teilgenommen. Ihre Liebensbriefe werden um Allerheiligen herum an verschiedenen Orten in München und Umgebung aufgehängt, etwa in der St. Michaels-Kirche oder auf Friedhöfen. Dort flattern sie dann bei Wind und Wetter wie eine moderne Plastik und reizen Betrachter zur Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Briefe der Garchinger Kinder sind in Sankt Michael in der Fußgängerzone aufgehängt und bis zum 10. November zu sehen. Informationen zum Projekt unter www.liebensbriefe.de. pa

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