Garching:Marathon der Technik

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Auf dem "Techfest" in Garching entwickeln Programmierer, Designer und Jungunternehmer in 72 Stunden neue Produkte

Von Anna Hordych, Garching

Der Motorradfahrer übersieht einen Lkw an einer Abzweigung - und diese minimale Unaufmerksamkeit kostet ihn beinahe das Leben. Hamza Mattoussi prallt mit voller Wucht auf den 40 Tonnen schweren Lkw, der ihm die Vorfahrt nimmt, und liegt daraufhin vier Tage im Koma. Der Unfall ist fünf Jahre her. Heute steht der 27- jährige Mattoussi im "Maker-Space" in Garching, um solchen Unglücksfällen vorzubeugen. Beim "Techfest" an diesem Wochenende entwickelt der Elektrotechniker gemeinsam mit vier anderen Maschinenbauern einen intelligenten Motorradhelm. Wie alle Teilnehmer der Veranstaltung kommen die fünf Ingenieure dabei in den Genuss einer voll ausgestatteten Werkstatt.

Sensible Helme, die Hilfe rufen können (Foto: Catherina Hess)

Weil das "Techfest" eine Veranstaltung der unabhängigen Gründungsplattform "Unternehmer-TUM" ist, können alle Teilnehmer deren Technik-Bibliothek in Garching nutzen, die als Europas größte öffentliche Hightech-Werkstatt gilt. Hinzu kommen Geräte und Expertise, die Partnerkonzerne dem Event gezielt zur Verfügung stellen. Mit dieser Strategie verzeichnete das "Techfest" schon im vorigen Jahr Erfolge und ebnete Münchner Initiativen wie "Acrai" den Weg in die Welt der Start-ups.

Die Zukunft der Technik im Alltag hat in Garching schon längst begonnen. (Foto: Catherina Hess)

Für das Team des Motorradfahrers Mattoussi sind die Elektrosensoren besonders wichtig, die das Unternehmen Osram Teilnehmern anbietet. Die Sensoren erlauben den fünf Ingenieuren, mit einem Stoffhandschuh die Herzfrequenz ihres hypothetischen Motorradfahrers zu messen. So möchten sie zu viel Adrenalin und Selbstüberschätzung möglichst früh erkennen. Außerdem können sie den Helm selbst mit Sensoren bestücken und empfindsam machen: "Nach dem Aufprall hat es bei mir etliche Minuten gedauert, bis ein Rettungswagen kam," erzählt Hamza Mattoussi, "wir wollen dagegen einen Helm entwickeln, der einen solchen Schlag automatisch registriert und sofort einen Notruf mit den Ortungsdaten absendet." Sein Mitstreiter Michael Götz räumt ein, dass es von großen Herstellern zwar bereits ähnliche Ansätze gebe, "die zielen aber auf das Motorrad ab und nicht auf eine GPS-Vernetzung und mehr Sicherheit durch den Helm".

Roboy, der Roboter mit den Kulleraugen. (Foto: Catherina Hess)

Mit etwas Glück können die angehenden Ingenieure, von denen derzeit noch drei an ihrer Masterarbeit schreiben, einen Sponsor von ihrem Prototypen überzeugen. Ihnen bleiben am Sonntag drei Minuten Zeit, um ihr Projekt "Helmup" zu präsentieren. Das "Techfest" setzt voraus, dass Ideen in nur 72 Stunden dingfest gemacht werden. "Hackathon" ist deshalb ein weiterer Titel, den sich das Gründer-Festival auf die Fahnen geschrieben hat. Der Begriff wird der großen Anzahl von Hackern und dem Marathon-Prinzip gerecht. "Schon in den Achtzigerjahren in Berlin gab es mehrtägige Hackertreffs", berichtet Alex Waldmann, Spezialist für künstliche Intelligenz und einer der Techfest-Organisatoren, "aber die waren Softwareanbietern und Systemen gegenüber meistens kontra eingestellt". "Mit amerikanischen Konzernen wie Google oder Facebook wurde die Idee 'Hackathon' dann 2011, 2012 in den Arbeitsprozess eingeführt und als kreativer 'day-off' in Firmen hineingetragen. Wir halten das für eine supergute Idee, wollen den intensiven Schaffensprozess aber praktisch wieder heraustragen und von dort aus an den Markt anschließen."

Pullover mit wechselnden Logos. (Foto: Catherina Hess)

So sollen die 330 Teilnehmenden aus 26 Ländern und die Firmpartner aus Wissenschaft und Industrie wie Reply, Innogy, oder Air Liquide gleichermaßen vom Wettbewerb profitieren. Die erste Runde 2016 lief so erfolgreich, dass die Organisatoren in diesem Jahr bei ihren Partnern und der Ausstattung eine Wachstumsrate von "sechzig bis siebzig Prozent verzeichnen" können, wie Waldmann verrät.

Darum werden am Sonntag auch gleich mehrere Preise vergeben. Den ersten Preis bekommt das Team "Winnie Loo" für seine intelligente Toilette. Sie analysiert die Urinwerte und gibt entsprechende Tipps zu Gesundheit und Ernährung. Zweiter wird das Team "Spacial Navigation for Everyone" mit einer in einem Stirnband integrierten 3D-Kamera und Haptik-Sensoren. Sie ermöglichen Blinden eine bessere räumliche Orientierung. Aber im Gegensatz zum vorigen Jahr erhalten die Gewinner ausschließlich Tickets und persönliche Einladungen. Beispielsweise gibt es eine Einladung für das begehrte Gründerfestival "Bits and Pretzels" in München oder ein Ticket für das zweitägige Start-up-Event "Slush" in Helsinki.

Unter Umständen geht schon die Hälfte des Pitches, - das sind anderthalb Minuten, - für die Vorführung einer Software drauf; der Klavierlehrer Franz Gräfer bespricht mit seinem Team, wie viel Spielzeit sie ihrer Piano-Software einräumen müssen. Sie wollen den Intro-Song der Serie "Game of Thrones" abspielen, um vor Publikum den Effekt ihrer Klaviererfindung zu demonstrieren. In Garching können sie Virtual-Reality-Brillen von Microsoft nutzen, um ein Lernprogramm zum Klavierspielen zu entwickeln. Bei jedem Ton zeigt die VR-Brille eine zugehörige Klaviertaste an. "Overlay" nennt der BWLer Sebastian Wieland die Farbmarkierung, die sich dank der virtuellen Brille optisch über die Klaviertasten legt. Weil sein Teamkollege Gräfer als Klavierlehrer weiß, wie nervtötend die Wiederholung immer gleicher Übungsmelodien sein kann, wollen sie nach dem Prinzip "learning by doing" verfahren und "jedweden Song auf Anhieb spielbar machen". Deshalb ist auch die anstehende Präsentation vor den Unternehmen essenziell, denn auf die Dauer müssten "digitale Musikdienste wie Spotify kooperieren, weil sie Melodien extrahieren können, die wir dann wiederum zur Verfügung stellen," sagt Franz Gräfer, der neben seinem musikalischen Hobby technologisches Management studiert und sich wie seine Mitstreiter in der IT gut auskennt.

Auch dieses vierköpfige Team zeigt: Bei dem Wettbewerb nur von Hackern und Programmierern auszugehen, trifft es nicht. Im Werkstattareal, das mit "Fashion Fusion" überschrieben ist und von Hugo Boss und der Telekom unterstützt wird, treffen zum Beispiel Designer, Physiker, Kognitionsforscher auf Informatiker. Sie entwerfen gemeinsam einen Pullover, der mithilfe von LED-Leuchten sein Logo stetig verändert.

Auch hier kommt das Motto "Expand your senses" zum Tragen, das den sogenannten "Maker-Space" überschreibt, dem auch der sensible Motorradhelm zuzurechnen wäre. Denn ob Mode oder Sicherheit beim Fahren: Erweiterung der Sinne kann vieles bedeuten.

© SZ vom 12.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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