Immerhin 20,57 Mark musste ein Arbeiter im Jahr 1891 auf den Tisch legen, um in Garching das Heimatrecht zu erwerben.
Michael Müller blättert vorsichtig in den alten Büchern mit teils handschriftlichen Aufzeichnungen, in denen Dinge wie diese vermerkt sind. Sie stehen noch im Keller des Rathauses in der Registratur und tragen Titel wie "Gemeindeprotokolle" oder eben "Heimatverleihungen". "Sie sind das Wertvollste, was wir haben", sagt der Heimatpfleger. Und sie werden bald umziehen, denn der Schreibtisch des Ortschronisten steht seit Kurzem im alten Gesindehaus, im Dachgeschoss über der Augustiner-Gaststätte. "Ich habe da sehr gute Arbeitsbedingungen", sagt Müller über sein neues Büro. Vor allem, wenn der bislang dunkle Raum auch noch ein Fenster bekommt.
Die meisten Kisten stehen schon in dem neuen Garchinger Stadtarchiv unterm Dach, einige Dinge warten jedoch noch im Keller darauf, dass Müller sie sichtet. Er muss entscheiden, was noch eingepackt wird und was einen Platz finden soll im neuen Raum. Dass die alten Bücher, deren Entstehung bis 1873 zurückreicht, mitkommen, ist klar. Sie zeugen vom Leben in dem früher landwirtschaftlich geprägten Dorf, listen im "Dienstbotenregister" Namen von Knechten und Mägden auf, die zeitweise hier lebten, oder im "Fremdenbuch" die von Zimmerern, Schlossern und Wagnern, die 1928 möglicherweise in Freimann im Bereichsbahnausbesserungswerk gearbeitet haben, wie Müller vermutet.
Dorflehrer führten früher die Protokolle
Die Listen und Protokolle geben auch Aufschluss darüber, wer das Heimatrecht erwarb. "Das wurde restriktiv gehandhabt. Man konnte nicht einfach herziehen", erklärt Müller. Die Neu-Garchinger mussten ihr Heimatrecht bezahlen. Der 72-Jährige nennt in diesem Zusammenhang den Anspruch der Neu-Bürger auf soziale Fürsorge. Da das eine kommunale Aufgabe war, schauten die Gemeinden wohl genau hin, wen sie aufnahmen. In schönster Handschrift ist festgehalten, wer wann das Recht bekam, wie lange er schon in Garching lebte. Meist führten Dorflehrer die Protokolle auf vorgedruckten Seiten. So steht als Protokollführer im Jahr 1907 etwa der Name des vielleicht bekanntesten Garchinger Lehrers zu lesen: Hans Stieglitz, der das Buch "Der Lehrer auf der Heimatscholle" veröffentlicht hat.
Interessant dürfte auch ein Blick in die Aufzeichnungen zum "Bieraufschlag" sein: "Das war fast die einzige Einnahmequelle der Gemeinde, eine Art Gewerbesteuer", sagt Müller. Auf der anderen Seite des Regals sind alte Baupläne aufgestapelt. Auch die Reichsgesetzblätter nehmen einigen Platz ein, etwas "das üblicherweise die Verwaltung abonniert hatte". Aus dem Rahmen fallen da schon zwei rote Dachziegel, von denen Müller bislang nicht weiß, woher sie stammen. Sicher ist nur, dass sie zur Sammlung seines Vorgängers im Amt des Heimatpflegers, Odward Geisel, gehörten. "Herr Geisel war ungemein fleißig", sagt Müller und zeigt auf die vielen Ordner mit Fotos und alten Dokumenten. Dort stehen die CSU-Klausurtage von 1985 friedlich neben den Bänden alter SPD-Zeitungen. In einem anderen Kellerraum finden sich zudem noch zwei Schaufensterpuppen und altes Pferdegeschirr. Die Puppen dienten wohl einmal dazu, Trachten auszustellen, die zukünftige Verwendung ist offen.
Der Wirt ist ein wirklich guter Gastgeber
Sie werden umziehen müssen wie Michael Müller, der mit seinem bisherigen Büro im Rathaus eigentlich sehr zufrieden war. Auf den neuen Arbeitsplatz freut er sich trotzdem, zumal er in dem neuen Raum viel mehr Platz hat, als im Rathaus. Der Heimatpfleger, der sein Amt 2011 übernahm, ist voll des Lobes über die gelungene Sanierung des alten Hauses, das die Stadt der Augustiner Stiftung verkaufte, verbunden mit dem Recht, hier ein Archiv zu führen. "Es entspricht dem Stand, wie es nach den Umbauplänen von 1923 aussehen hätte sollen", sagt Müller. Walmdach, Fensterfront, die Aufteilung der Räume im Gaststättenbereich - die neuen Eigentümer hätten viel Rücksicht auf den alten Bestand genommen. Und Wirt Markus Gastberger sei wirklich ein guter Gastgeber, stellt Müller fest. "Ich fühle mich hier tatsächlich wie ein Gast im Haus, ich stolpere jetzt nicht hier rein, wann ich will", sondern nur zu den Öffnungszeiten der Wirtschaft, sagt Müller.
Müller will den Neustart Schritt für Schritt angehen und dann auch entscheiden, was er noch braucht. Vielleicht mehr Regale, vielleicht einen Plakatschrank, vielleicht einen Panzerschrank, wie die Nachbargemeinde Ismaning ihn im Archiv stehen hat. Aber er wolle erst den Überblick haben und nichts umsonst bestellen. Ihm schwebt ein Archiv vor, dass allen Garchingern offen stehen soll. "Ich will alles aufstellen, beschriften und greifbar machen", sagt Müller. Und vielleicht bekommt er ja auch noch ein Fenster.
In der Hauptausschusssitzung im April brachte der Zweite Bürgermeister Alfons Kraft (Bürger für Garching) das Thema auf. Noch ist es schummrig in Müllers neuer Arbeitsstätte. Kraft kritisierte das fehlende Fenster, schon weil damit der Fluchtweg fehle. Der Dritte Bürgermeister Walter Kratzl (Grüne) bezweifelte, dass sich dieser Raum ohne Fenster überhaupt zur Lagernutzung eigne, geschweige denn als Arbeitsraum. Tatsächlich war im Bebauungsplan ein Fenster vorgesehen, wie Bürgermeister Dietmar Gruchmann (SPD) erläuterte. "Augustiner hat es nur gut gemeint, denn Tageslicht schadet den Dokumenten." Es sei aber schon vereinbart worden, "zeitnah" die Einbauten nachzuholen. Müller, ein Mann der leisen Töne, wollte selbst kein großes Aufhebens darum machen. Er bedankte sich und sagte in der Sitzung, er freue sich über die Unterstützung: "Ich will ja nicht eingesperrt sein".
Bis mehr Licht in das neue Stadtarchiv kommt, kann er bei Bedarf ins Büro des Wirts ausweichen, der ihm den kleinen Raum als Zwischenlösung angeboten hat. Mit oder ohne Tageslicht - Müller hat jedenfalls viele Themen im Kopf, denen er sich in den neuen Räumen widmen will.
Die nächsten Tafeln seiner Serie "Museum auf der Straße" sollen folgen und der promovierte Historiker, der als Gymnasiallehrer am Werner-Heisenberg-Gymnasium unterrichtet hat, möchte noch Garchinger und Hochbrücker Themen aus der NS-Zeit recherchieren, etwa zu Zwangsarbeitern. "Es gibt ältere Leute, die noch gut Bescheid wissen", sagt Müller. An Arbeit wird es dem Heimatpfleger also nicht mangeln.