Garching:Auf Suche nach dem verlorenen Richtungssinn

Berg Lesung Norbert Göttler

Johano Strasser, von 2002 bis 2013 Präsident des deutschen PEN-Zentrums, gilt als Vor- und Querdenker. In Garching präsentierte er sein neues Buch.

(Foto: Georgine Treybal)

Der Publizist und Politologe Johano Strasser legt in der Garchinger Stadtbücherei eine spannende Analyse und Ideengeschichte des Fortschrittsbegriffs dar - und diskutiert über alternative Zukunftsmodelle

Von Udo Watter, Garching

Zu den Klassikern der Lebensweisheiten gehört der Konfuzius zugeschriebene Satz "Der Weg ist das Ziel". Aber wissen wir heute überhaupt noch, wohin wir gehen sollen? Wie wir in Zukunft leben wollen? Hält das menschliche Denken Schritt mit dem technisch-wissenschaftliche Fortschritt, dem scheinbar keine Grenzen gesetzt sind? Oder provokant gefragt: Was ist am Fortschritt fortschrittlich?

Diesen und anderen Fragen widmete sich der Politologe, Autor und Publizist Johano Strasser im Rahmen eines philosophischen Abends in der Stadtbücherei Garching. Der gebürtige Niederländer, der von 2002 bis 2013 Präsident des deutschen PEN-Zentrums war, sprach über die Ideengeschichte des Fortschrittsbegriffs, über Segen und Unsegen historisch-politischer Entwicklungen und nicht zuletzt über alternative Zukunftsmodelle, die das Primat des Ökonomischen und des ewigen Wachstumsdenkens ersetzen könnten.

Zu seiner Seite saß als Moderator Jürgen Heckel, früherer Leiter der Garchinger Stadtbücherei, der im Laufe des Abend auch immer wieder spannende Fragen aus dem Publikum in die Diskussion aufnahm. Es ist ja auch ein Thema, das die Fundamente menschlicher Essenz berührt, ein weites Feld, in dem kulturoptimistische und -pessimistische, utopische und dystopische Aspekte eine Rolle spielen.

Strasser hat das in seinem neuem Buch "Das Drama des Fortschritts" genannt, und auch wenn sich der 77-Jährige keiner Seite verschreibt und das Thema differenziert angeht, klingen seine Thesen tendenziell erst mal skeptisch: "Uns ist der historische Richtungssinn abhanden gekommen." Angesichts von gewaltigen Umweltproblemen, immer neuer Kriege, Terrorismus oder der weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich fällt es in der Tat schwer, den Fortschrittsoptimismus, etwa der Aufklärung, zu teilen. Damals galt Bildung als das große Projekt, mit dem die aus ihrer Unmündigkeit erwachende Menschheit quasi zwangsläufig auf eine glänzende Zukunft zusteuere.

Zuvor hatte es lineare Zuversicht nicht gegeben, wie Strasser darlegte: Noch in der Antike dachte man eher zyklisch oder sehnte sich zurück nach einem "Goldenen Zeitalter". Das christliche Mittelalter legte generell wenig Wert auf gesellschaftlichen Fortschritt im Diesseits, da ja das jenseitige Paradies respektive das Jüngste Gericht als Ziel unantastbar feststand. Gerade in den Klöstern gab es aber auch da schon Entwicklungen, und in der Renaissance erfuhr der humane Aspekt deutliche Aufwertung - in seiner selbstbewusstesten Spielart wurde "der Mensch als Rivale Gottes" gesehen. Mit der Aufklärung setzte dann ein Fortschrittsglaube ein, der es fast ungebremst bis ins 20. Jahrhundert schaffte, wo freilich zwei Weltkriege, Faschismus, Stalinismus, Völkermorde, die Entwicklung der Atombombe und anderes diesen schwer relativierten. "Wir haben nicht nur die Sprache den Tieren voraus, wir haben auch als einzige Wesen die Selbstvernichtungskompetenz erworben", sagte Heckel.

Überhaupt muss man sich fragen, ob die These vom gleichsam geschichtsmetaphysischen Fortschritt nicht die Würde vergangener Epochen schmälert und wie weit er ausdehnbar ist, etwa auf Kunst und Literatur. "Ist Gerhard Richter fortschrittlicher als Tizian?", fragte Strasser. Wohl eher nicht, war man sich einig. Jenseits solcher Fragen steht gerade in heutigen, von vielen als rasend beschleunigten, instabil erlebten Zeiten der Fortschrittsbegriff schwer auf dem Prüfstand. Wenn der Selbstmordattentäter als "Frucht des modernen Krieges" keinerlei Interesse mehr am Überleben hat, was bedeutet das im Umgang mit ihm? Oder wie bekämpft man die Exzesse des Finanzkapitalismus, das neoliberale Mantra des unbegrenzten Wachstums, die Macht der Großkonzerne - für Strasser, der ja schon in den Siebzigern sich als sozialdemokratischer und ökologischer Vordenker etablierte, ein besonders rotes Tuch.

Der vielleicht spannendste Teil des Abends gehört dem Nachdenken über alternative Fortschrittsmodelle. Dass in Zeiten großer Flüchtlingsbewegungen, einer globalisierten und digitalisierten Welt dem einzelnen Menschen etwas weggebrochen ist und er sich in einer konfuser und multipler werdenden Weltordnung nicht mehr zurecht findet, sieht Strasser - fern von naivem Idealismus - als Problem. "Wir sind übers Ziel hinausgeschossen. Wir kommen mit dieser überwältigenden Heterogenität nicht mehr zurecht und brauchen wieder mehr Räume der Beheimatung." Heckel betonte, dass man sich schon in der Romantik gefragt habe: "Wie viel Fremdes verträgt der Mensch?" Generell freilich, so Strasser, seien diejenigen Gesellschaften am kreativsten und reichsten, die sich geöffnet haben. Es brauche beides: Beheimatung und Offenheit. Angesicht einer langen Kolonialgeschichte, westlichem Chauvinismus und einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung sowie der Reaktion der Unterdrückten darauf, meinte er: "Wir müssen Kollektiv-Demütigungen vermeiden."

Doch auch wenn es, wie Heckel einwarf, gerade momentan eine gefährliche Entfremdung von Demokratie gebe und eine Hinwendung zu charismatischen Führern, ist Strasser nicht ohne Zuversicht. Er plädierte dafür, ein "Programm der Dezentralisierung" zu forcieren, damit die Menschen wieder "kleine Räume der stabilen Beheimatung" hätten - nicht zuletzt, um die europäische Idee von unten zu revitalisieren. Überdies sprach er sich mit Blick auf nukleare Abfälle dafür aus, nur noch technische Entwicklungen zuzulassen, die revidierbar sind. Von der Digitalisierung erwartet er sich bei aller Kritik an Überwachung und mangelndem Schutz der Privatsphäre durchaus Verbesserungen in der Arbeitswelt. Fortschritt ist also nach Strasser immer noch möglich, gerade wenn die Gesellschaft werteorientierte Bedingungen durchsetzt, auf die Wirtschaft und Technik Rücksicht nehmen müssen. Die entscheidende Gefahr fürchte er freilich: "Eine Aufwallung des Irrationalismus kann alles ändern." Dann ist der Weg nicht mehr das Ziel, sondern vielleicht abrupt zu Ende.

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