Sonntag, 18. Dezember 2022, 16.30 Uhr, drei Grad unter null. Leise rieselt der Schnee. Auf dem Balkon steht seit Tagen ein Christbaum, im Wohnzimmer flackert die vierte Flamme auf dem Adventskranz, die Fenster sind geschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Der Fernseher ist leise gestellt, der Herr des Hauses hat darauf größten Wert gelegt und die beiden Söhne neben sich auf der Couch zudem verpflichtet, gefälligst ihren Schnabel zu halten, nicht einmal laut zu atmen, egal, was passieren würde. Dann aber tritt ein, was nie hätte geschehen dürfen. Grelle Schreie durchschneiden die angeordnete Grabesstille. "Toooor, Toooor, Toooor!", brüllen die drei derart laut, dass es eine Häuserzeile weiter noch zu hören ist.
"So, jetzt ist es raus", sagt die Ehefrau und Mutter. Der Torjubel nach dem Treffer von Joshua Kimmich in der 31. Spielminute hat sie entlarvt. Im Nachbarhaus weiß man nun, dass sie sich doch heimlich die Fernsehübertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Argentinien in Katar anschauen. Dabei hatte man doch allen Nachbarn versichert, kein einziges WM-Spiel zu verfolgen, weil es in einem Emirat stattfindet, in dem elementare Menschenrechte nicht geachtet, Frauen unterdrückt und Homosexualität bestraft werden. Da wollte man also moralisch Verwerfliches meiden und erlag doch der Versuchung. Der Geist war willig, aber das Fleisch war schwach.
Natürlich ist das alles Fiktion, aber die wohl umstrittenste Fußball-Weltmeisterschaft der vergangenen Jahrzehnte wirft auch im Landkreis München ihre dunklen Schatten voraus. Wenn man den zahlreichen Umfragen Glauben schenkt, wonach selbst viele eingefleischte Fußballfans das Wüsten-Turnier boykottieren und die meisten Wirte keine Spielübertragungen anbieten wollen, dann wird es wohl eine fade Angelegenheit und kein Wintermärchen. Wenn nicht allzu viele Fans und Wirte nach ersten Triumphen der DFB-Elf schwach werden.
Das Turnier beginnt zwar bereits an diesem Sonntag, wenn Gastgeber Katar auf Ecuador trifft, die deutschen Kicker steigen aber erst am 23. November mit dem Spiel gegen Japan ins Turnier ein. Vier Tage danach wird bei uns die erste Kerze auf dem Adventskranz entzündet. Es wird sich zeigen, ob in den darauffolgenden Wochen vorweihnachtliche Besinnlichkeit und Fangesänge auf engstem Raum kollidieren werden. Zum Beispiel auf den Weihnachtsmärkten, die gleichzeitig stattfinden. Werden die sich kurz vor dem Anpfiff schlagartig leeren? Werden tapfere Fans in Vorfeierstimmung und kurzärmeligen DFB-Trikots in Richtung warmer Kneipe aufbrechen oder sich lieber bei Lebkuchen und Glühwein einen Katarrh holen, als vor dem Fernseher um den Sieg von Flicks Buben zittern zu müssen?
Möglicherweise dürfen diese zum Achtelfinalspiel am Nikolaustag antreten. Wir singen dann "Advent, Advent, die Mannschaft brennt". Aber nur ganz leise.