Führung durch die Kanalisation:München von unten

Wer die gängigen Sehenswürdigkeiten schon kennt, dem bietet die Kanalführung der Stadtentwässerung völlig neue Münchner Perspektiven. Voraussetzung: keine Platzangst und eine wenig empfindliche Nase.

Felicitas Kock

Ein Schwall feuchtwarmer Luft dringt aus der Tiefe - der modrige, abgestandene Geruch nimmt einem den Atem. Auf nassen, rutschigen Stufen geht es nach unten. So beginnen Gruselromane - und Kanalführungen der Münchner Stadtentwässerung.

Kanahlführung München, Ben Tax

Die etwas andere Stadtführung: Wissenswertes über das Kanalsystem, seine Entstehung und Nutzung, vermittelt die Münchner Stadtentwässerung.

(Foto: Münchner Stadtentwässerung / oh)

Es ist 10 Uhr und vor dem Arri-Kino in der Akademiestraße steht ein orangefarbenes Auto der Stadtwerke. Daneben macht sich eine Gruppe von Mitarbeitern des Gartenbauamts bereit für ihre Tour in den Untergrund. Festes Schuhwerk, Outdoorjacken, Taschenlampen - noch ein paar Worte von Kanalexperte Ben Tax dann begibt sich die Gruppe in den Untergrund.

Es wird still. In einem schmalen Gang drängen sich die Teilnehmer - hinter ihnen das feuchte Gemäuer, vor ihnen fließt eine bräunlich schmutzige Brühe, darin Klopapier, Exkremente, gelegentlich schwimmt wippend ein Wattestäbchen vorbei - feinstes Münchner Stadtabwasser, frisch vom Stiglmaierplatz.

"In diesem Kanalabschnitt riecht es nicht ganz so schlimm", erklärt Tax, "fast ein bisschen süßlich, wegen der beiden Brauereien, die weiter oben ihr Abwasser einleiten." Nicht ganz so schlimm? Die weiblichen Teilnehmer blicken skeptisch über den Rand der Schals, die sie vor Nase und Mund gepresst haben.

Sie werden den Gestank jedoch noch eine Weile aushalten müssen, denn Ben Tax erklärt das Kanalsystem, dessen Zweck, Entstehung und Nutzung gerne vor Ort - im Kanal. Max von Pettenkofer hatte im 19. Jahrhundert das Entwässerungsnetz anlegen lassen, um die Verbreitung von Pest und Cholera einzudämmen.

Was die Münchner durch die Toiletten spülen

Pettenkofers Theorie: Die Bevölkerung, die sich gegen eine Kanalisierung ausgesprochen hatte, musste die Möglichkeit bekommen, sich das Kanalsystem anzuschauen, schließlich war es ihr Geld, das hier verbaut wurde. Nach der Besichtigung würde es den Leuten leichter fallen, den Nutzen einer Kanalisation zu verstehen, so die Idee. Von den acht Treppen, die einst in die Tiefe führten, sind noch drei begehbar. Und auch heute gibt es noch Leute, die sehen wollen, was im Untergrund vor sich geht.

Drei bis vier Führungen macht Tax pro Woche. "Ich weiß auch nicht, warum die Leute das so interessiert", sagt der Kanalführer mit einem Schmunzeln. Wer schaut sich schon gern in seiner Freizeit an, was die Münchner so in ihren Toiletten hinunterspülen? Die Besucher schauen dennoch gebannt ins Wasser und lauschen den Ausführungen von Tax.

Zurück an der Oberfläche lässt die kühle Luft alle aufatmen. Dann kommen die ersten Fragen: Wie lang ist das Münchner Kanalnetz? Was passiert wenn es zu viel regnet? Hatte Pettenkofer mit seiner Idee Erfolg? Auf eine Frage hat Tax schon gewartet: Gibt es in der Kanalisation viele Ratten? "Die eine oder andere gibt es", sagt der Stadtführer und zieht grinsend eine graue Stoffratte aus der Jackentasche.

Die Population der Kanalratten wächst

Außer dem Kuscheltier bekommen die Führungsteilnehmer in der Regel keine Vierbeiner zu sehen -sie sind zu scheu, um sich den Menschen zu zeigen. Nur an der Menge des Kots, den die Kanalratten hinterlassen, ist festzustellen, ob die Population schrumpft oder wächst. Gegenwärtig wächst sie.

Von der Kanaltreppe im Univiertel aus geht es für die Gruppe vom Gartenbauamt mit der U-Bahn zum Nordfriedhof. Hier führt der Einstieg zu einem stillgelegten Überlaufkanal. Die Decken sind hoch, nach allen Seiten hin ist viel Platz und nur ein wenig Regenwasser hat sich am Boden des Kanals gesammelt. Es ist Zeit für einen Spaziergang. Rund 300 Meter weit kann man unter dem Friedhof laufen.

Im Tunnel wird es kalt und dunkel, die Teilnehmer beginnen, sich Schauergeschichten zu erzählen. Von der wilden Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation in Orson Welles Film Der Dritte Mann ist die Rede und von Toten, die aus ihren Gräbern steigen, um unschuldige Wanderer zu ermorden.

Unweit der Ausstiegstreppe, in der Schenkendorfstraße, liegt die letzte Station der Kanalführung. Es handelt sich um ein 20.000 Kubikmeter großes unterirdisches Becken, in dem Wasser gespeichert werden kann, bevor es ans Klärwerk weitergeleitet wird. Am Morgen stand hier die braune Brühe um die zwei Meter hoch, jetzt steht die Gruppe vom Gartenbauamt auf dem noch feuchten Boden. Der Geruch des Abwassers hängt noch zwischen den meterhohen Säulen, nebenan rauscht der Kanal.

2400 Kilometer lang ist das Münchner Entwässerungsnetz. Sechzig Prozent sind begehbar, der Rest sind Rohre. Der Bau des Kanalsystems im 19. Jahrhundert war eine Wohltat für die Stadt: Die Hygienesituation verbesserte sich, danach gab es kaum noch Seuchen. "Er hat sich schon was dabei gedacht, der Pettenkofer", sagt Tax.

Die Kanalführungen der Münchner Stadtentwässerung sind - ganz im Sinne Pettenkofers - kostenlos; Anmeldung unter der Telefonnummer 089/ 23 36 20 08; ab etwa zehn Personen ist eine eigene Führung möglich, für Einzelpersonen und Kleingruppen gibt es Sammeltermine;

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