Fotografie:Ein Dorf verschwindet

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Verfall und Abriss als künstlerisches Sujet: Irgendwann wird auch die Kirche des Dörfchens Manheim weg sein. (Foto: Yannick Rouault)

Der Ottobrunner Yannick Rouault verfolgt in einer Langzeitfotoserie den Abriss eines Ortes in Nordrhein-Westfalen, der dem Braunkohletagebau weichen soll. Seine Ausstellung ist im Rathaus zu sehen.

Von Franziska Gerlach, Ottobrunn

Noch steht die Kirche in Manheim, dazu zehn, vielleicht auch fünfzehn Häuser. Doch Yannick Rouault hat bereits eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie das Ende aussehen könnte, und zu Ende begleiten will er das Ganze nach all den Jahren auf jeden Fall.

Ein Foto vom Marktplatz schwebt ihm als letztes Bild seiner Serie vor, vielleicht mit einer Laterne darauf, damit der Betrachter erkennt, dass dort mal ein Dorf stand, echtes Leben stattfand. Der Rest sei weg. Die Kirche, die Häuser. Und im Hintergrund frisst sich ein Bagger durch den Boden im südlichen Teil des Rheinischen Braunkohlereviers.

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Der freischaffende Kameramann und Fotograf, aufgewachsen in Ottobrunn und in Neubiberg aufs Gymnasium gegangen, klappt seinen Laptop zu. Ein Moment des Schweigens breitet sich aus, denn Rouault weiß natürlich, dass man seine Fotografien, ihre stille Brutalität und schlichte Wehmut, erst einmal verdauen muss. "Manheim - Ein Dorf verschwindet" heißt die Ausstellung im Rathaus Ottobrunn, die seit Anfang Juni 34 ausgewählte Bilder seines ungewöhnlichen Fotoprojekts zeigt (bis 27. Juni). Seit 2016 dokumentiert Rouault den Abriss des Dorfes, das bis 2022 dem Tagebau Hambach weichen soll.

Rund 1000 analoge Fotografien entstanden bei diesen Expeditionen, und jedes Mal, wenn er nach Manheim abbog, ergriff ihn die Angst vor der traurigen Gewissheit, das wieder ein Stückchen fehlen wird von dem Dorf, von dem er fast zärtlich spricht. Über eine Urlaubsbekanntschaft aus Nordrhein-Westfalen erfuhr er 2012 bei einem Besuch erstmals von den Umsiedlungen, die im Braunkohlerevier des RWE-Konzerns, dem größten zusammenhängenden Braunkohlegebiet Europas, im Dreieck zwischen Aachen, Köln und Mönchengladbach, vorgenommen werden.

Er konnte sich die gigantischen Löcher, die verlassenen Dörfer und die gerodeten Wälder zunächst nicht vorstellen, zu abstrakt klang das in den Ohren des jungen Ottobrunners, heute 27 Jahre alt. "Ich saß mit offenem Mund da", sagt Rouault. Allein im rheinischen Gebiet seien innerhalb der letzten hundert Jahre rund 40 000 Menschen umgesiedelt worden. Der Tagebau mache vor nichts Halt.

Flüsse wurden umgeleitet, Autobahnen stillgelegt, alte Dörfer abgerissen - so wie das im Jahr 898 erstmals namentlich erwähnte Manheim, seit 1975 ein Stadtteil von Kerpen, gelegen nahe dem Hambacher Forst, jenem Reststück Wald, in dem 2018 die Aktivisten aus den Bäumen geholt wurden. "Es war ein Dorf wie jedes andere auch, mit einer guten Infrastruktur und einer lebendigen Dorfgemeinschaft", sagt Rouault, der bereits 2012 und 2013 im Rathaus ausgestellt hat, als Mitglied des Künstlerkollektivs "Post-Abstrakt", zu dem er sich mit einigen Schulkameraden zusammengetan hatte.

Die Grundschule in Manheim gibt es bereits nicht mehr. (Foto: Yannick Rouault)

"In dem Gemeindehaus hat Michael Schumacher geheiratet"

Er öffnet per Mausklick ein Foto, dann noch eins und noch eins. Eine Grundschule mit einem Schwimmbad erscheint auf dem Bildschirm, ein Stadion mit Vereinsheim, ein Feuerwehrhaus, ein Bauernhof von 1892. "In dem Gemeindehaus hat Michael Schumacher geheiratet", sagt Rouault, als das Foto eines unscheinbaren Backsteinbaus aufploppt. Das habe er sicherheitshalber noch mal überprüft.

Überhaupt muss der Ottobrunner tonnenweise Recherche betrieben haben, so wie die Zahlen und Fakten aus ihm herausfließen. Nur dass er bei der Bundestagswahl im September als Direktkandidat für die ÖDP im Wahlkreis München-Land ins Rennen geht, das erwähnt er von sich aus nicht. Er wolle seine künstlerische Arbeit nun einmal von der politischen trennen, sagt er.

Rouault hat ein Bachelorstudium in Audiovisuellen Medien an der Hochschule der Medien in Stuttgart abgeschlossen, in der Fotografie aber ist er ein Autodidakt. Größtenteils zumindest, denn einige grundlegende Dinge habe ihm zu seiner Zeit als Ministrant in St. Otto der damalige Pastoralreferent Alexander Kirnberger beigebracht.

Man solle sich klar machen, was man eigentlich zeigen wolle, nach dem Motto: Braucht es den kleinen Ast, der da gerade in den Bildausschnitt ragt? Oder lenkt der ab? Dieses Prinzip hat Rouault verinnerlicht: Die Motive seiner Manheim-Serie sind klug gewählt, und wenn hier auch der Verfall zum künstlerischen Sujet erhoben wurde, so hat er keine Vorher-Nachher-Show geschaffen.

Die Menschen sind schon lange fort

Vielmehr ging es ihm darum, mit der Kamera die Geschichte dieses Dorfes festzuhalten, eine Geschichte, deren Absurdität Rouaults Fotos auf ästhetisch-subtile Weise erzählen: Da ist die rote Rutsche neben dem Schuttberg, auf der schon lange kein Kind mehr gerutscht ist. Ein Heuballen, der wie von Geisterhand in der Einfahrt eines Bauernhofs postiert wurde, als solle er das verlassene Gehöft bewachen. Und da sind die Parkbuchten, die erahnen lassen, dass es in Manheim einst Autos gab, die Menschen gehörten. Nur die Menschen selbst, die tauchen bei Rouault nicht auf. Nirgends. Und doch vermisst man sie.

Manchmal ärgere er sich, die Arbeit an der Serie nicht früher aufgenommen zu haben. Als Rouault 2016 zum ersten Mal in Manheim fotografiert, ist das Leben schon fort. Bevor 2012 die Umsiedlungen begannen, zählte das Dorf rund 1700 Bewohner, heute lebt vielleicht noch ein Dutzend Menschen inmitten halb abgerissener Häuser und Schutt. Rund 70 Prozent der Einwohner seien in das neue Dorf umgesiedelt worden.

Es liegt westlich von Kerpen und trägt den schnörkellosen Namen "Manheim-neu". Seines Wissens habe es "keinen sichtbaren Protest" gegen die Umsiedlungen gegeben. Die Leute arrangierten sich im Übrigen ganz gut damit. "Sie kennen nichts anderes als den Tagebau", sagt der Fotograf. "Man stellt das nicht in Frage."

© SZ vom 05.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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