Forschung:Saurierschädel unter Neutronenbeschuss

Forschung: Mithilfe von Neutronenstrahlen können Wissenschaftler in Garching verschiedene Objekte durchleuchten, etwa den Schädel eines Cistecephalus.

Mithilfe von Neutronenstrahlen können Wissenschaftler in Garching verschiedene Objekte durchleuchten, etwa den Schädel eines Cistecephalus.

(Foto: Michael Laaß/OH)

Den Forschungsreaktor in Garching nutzen Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Fachrichtungen.

Von Gudrun Passarge, Garching

Wie gut hörten Therapsiden, die vor 230 Millionen Jahren lebten, und welche Materialmischung bewirkt, dass Batteriezellen eine längere Lebensdauer haben? Es sind Fragen wie diese, die Wissenschaftler im Garchinger Forschungsreaktor (FRM II) mithilfe von Neutronenstrahlen zu beantworten versuchen. Jährlich etwa 1000 Forscher aus aller Welt nutzen den Reaktor für ihre Messungen.

"Neutronen durchdringen jedes Material mühelos", sagt der wissenschaftliche Leiter des FRM II, Winfried Petry, "sie können damit wirklich Licht ins Dunkel bringen. Völlig zerstörungsfrei."

Der Reaktor mit einer Leistung von 20 Megawatt ist derzeit außer Betrieb. Normalerweise werden vier Zyklen à 60 Tage im Jahr gefahren, momentan wird der vierte Zyklus dafür genutzt, einen Strahlenrohreinsatz auszutauschen. Erst im neuen Jahr wird das Brennelement mit hochangereichertem Uran wieder eingesetzt. Warum das umstrittene hochangereicherte Uran? Petry wird nicht müde zu erklären, dass nur so der hohe Neutronenfluss erreicht werden kann, den die Wissenschaftler für eine möglichst große Messgenauigkeit benötigten.

Grundlagenforschung, medizinische Forschung und Anwendung, etwa Neutronenbestrahlung bei oberflächennahen Krebstumoren, Materialforschung - die Liste der Experimente und Messversuche ist lang, wer hier arbeiten will, braucht Geduld. "Die Instrumente sind um den Faktor zwei überbucht", sagt Petry und lässt seinen Blick über die Neutronenleiterhalle West schweifen. Hier reiht sich Apparat an Apparat. Zweimal im Jahr treffen sich 70 Wissenschaftler aus aller Welt, um unter 300 bis 400 Messvorschlägen auszuwählen. "Es ist eine Serviceeinrichtung", sagt Petry, die von Bund und Land finanziert wird. Hinzu kämen etliche Drittmittel. Dabei gilt: Wer ein Instrument aufbaut, darf es zu einem Drittel der Zeit selbst nutzen, zu zwei Dritteln steht es allen Forschern zur Verfügung. "Da werden alle gleich behandelt", sagt Petry.

Michael Laaß von der Universität Duisburg-Essen ist einer der Nutznießer. Der Paläontologe schreibt an seiner Doktorarbeit, in der es um die Sinne bei ausgewählten Therapsiden geht. Lange war nicht klar, ob und wenn ja wie diese Vorfahren der Säugetiere Luftschall wahrnehmen konnten. Für die Tiere war es jedenfalls ein immenser Vorteil, "besonders bei jenen, bei denen der Kontakt von Körper und Boden verloren gegangen ist", erläutert Laaß, weil sie eine aufrechtere Körperhaltung annahmen. Doch weil den Forschern häufig nur einzelne Schädelknochen oder versteinerte Funde vorliegen, war es schwer, den Gehörgang zu rekonstruieren.

Paläontologen helfen Neutronenstrahlen, Modelle von Urzeittieren zu bilden

Das gelang Laaß erst mithilfe der Neutronen und des Messgerätes Antares in Garching. "Sie können auch eisenhaltiges Gestein, das Röntgenstrahlung abschirmt, gut durchdringen und liefern einen exzellenten Kontrast zwischen Knochen und Gestein", beschreibt Laaß die Vorteile der Neutronenstrahlen. So entstand ein 3-D-Modell, das den Forschern zeigt, wie die Tiere, die vor mehr als 260 Millionen Jahren lebten, den Luftschall mittels eines Trommelfells am Unterkiefer verarbeiteten. Laaß hat seine Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, ein riesiger versteinerter Schädel eines Pareiasaurus wartet noch in der Metallkiste vor dem Messgerät. "Da interessiert uns die Innenstruktur der Schädel", erklärt Laaß.

Hilfreich waren die Neutronen auch im Falle zweier wertvoller Holzfiguren aus einer Kirche in Schleswig-Holstein. Die Figuren waren 1903 mit Steinkohlenteeröl (Carbolineum) konserviert worden. Doch dieses Mittel gilt nicht nur als krebserregend und umweltschädlich, es führte auch dazu, dass die Figuren mit schwarzen Flecken verunziert waren. Die Untersuchung mit Neutronenstrahlen zeigte den Restauratoren, wo die Substanz sich im Holz verteilt hatte, beide Figuren konnten so dekontaminiert und gerettet werden.

Petry könnte noch Hunderte solcher Versuchsreihen und Erfolge der Wissenschaftler anführen. Er ist überzeugt, dass Neutronen helfen werden, "die Lösungen für viele gesellschaftliche und technische Herausforderungen zu finden". Etwa in der Energieforschung, der Nanotechnologie oder in der Informationstechnik. Besonders wichtig wird auch die Produktion von Molybdän 99, das zu Technetium 99 m zerfällt. Dieses Radioisotop sei das meistgenutzte in der Nuklearmedizin, überall auf der Welt würden damit etwa 30 Millionen Patienten untersucht. Damit würden Entzündungen sichtbar oder etwa Tumore und auch bei Herz-Kreislaufuntersuchungen wird es eingesetzt. Weltweit gibt es aktuell nur sechs Produktionsstätten dafür, von denen fünf in den nächsten Jahren ausrangiert würden, berichtet der Physiker.

Das Garchinger "Atom-Ei" hat viel Forschung möglich gemacht

Den Grundstein für all das hat Heinz Maier-Leibnitz mit dem Atom-Ei gelegt, das vor genau 60 Jahren in Garching gebaut wurde. "Ein kleines Spielzeug, wertvoll, wo man neue Ideen ausprobiert hat", sagt Petry aus heutiger Sicht. Er meint es positiv: "Spielend befriedigen wir unsere Neugier. Das ist Antrieb für Innovationen." Der erste Reaktor in Garching war der "Keim für den vermutlich größten Wissenschaftscampus in Europa", sagt Petry. Doch der Nachfolger FRM II, seit 2004 in Betrieb, habe eine ganz andere Qualitätsstufe. Das von der EU initiierte European Strategy Forum on Research Infrastructures bezeichnet den Forschungsreaktor als Europas wichtigste Neutronenquelle, laut Petry ist es auch führend in der Instrumentierung und "Weltspitze im physikalischen Apparatebau".

Auch für die Zukunft hat Petry schon konkrete Pläne. Er zeigt die leere Neutronenleiterhalle Ost und deutet auf die Plätze, auf denen bald neue Instrumente aufgebaut werden sollen. Damit nicht genug. Für 2030 hofft der wissenschaftliche Direktor des FRM II, eine dritte Halle bauen zu können. Doch das ist noch eine Vision, "aber sie sehen, wir planen langfristig", sagt er.

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