Folge 9:Wildnis aus zweiter Hand

Der Notzinger Weiher bei Erding ist der Gegenentwurf eines typischen Badesees. Er bietet weder Sandstrand noch Volleyballfeld, dafür kaum berührte Natur

Von Max Ferstl, Oberding

Die Badegäste staunten, als der fremde Mann mit den langen Haaren plötzlich zu tanzen begann. Er hüpfte im Kreis, wie ein Indianer ums Lagefeuer. Balancierte auf einem Bein. Blies zwischen den Sprüngen laut in seine Pfeife. Später erklärte er sein Ritual. Er sei ein Schamane, behauptete der Fremde. Er könne spüren, dass "an diesem mystischen Ort" eine spezielle Kraft wirke. Nun staunten die Badegäste noch mehr.

Schließlich stand der Fremde: am Ufer des Notzinger Weihers. Mitten im Erdinger Moos. Heinrich Link verfolgte das Geschehen durch das Fenster seines Kiosks. Er ist sich nicht sicher, ob er damals tatsächlich einen seriösen Schamanen kennen gelernt hatte, "vielleicht war es auch nur ein Spinner". Manchmal denkt er noch zurück an diesen heißen Sommertag vor einigen Jahren. Dann beschleicht ihn das Gefühl, dass der Fremde nicht ganz daneben lag: "Der Ort strahlt etwas aus", findet Link. An einem Vormittag im August steht er in seinem Kiosk und schaut hinaus auf den See. "Was ist das für ein Ausblick?", fragt er den Besucher. Er sieht vor allem: Grün. Schilf, Bäume, sogar das Wasser. Als hätte jemand ein Bild gemalt und im Malkasten nur eine Farbe gehabt. Dazu etwas Deckweiß für die Stämme der Birken. Link sagt: "Wenn ich aus dem Fenster schaue, bin ich happy. Jedes Mal." Das spricht für die These des Fremden: Link schaut immerhin schon seit 46 Jahren hinaus auf den Notzinger Weiher. So lange verkauft er hier schon Bier, Gummibärchen, Currywurst, "die beste im Landkreis". Der See hat ihn in seinen Bann gezogen.

Folge 9: Der Kiesaushub ließ in den Zwanzigerjahren den Notzinger Weiher entstehen.

Der Kiesaushub ließ in den Zwanzigerjahren den Notzinger Weiher entstehen.

(Foto: Renate Schmidt)

Andere finden zumindest, dass es sich hier gut baden lässt. Wer will, findet unter den Bäumen immer einen schattigen Platz, sagt Link. "Keiner muss ein Handtuch hinlegen." Es kommen vor allem diejenigen, die Ruhe wollen. Meistens ältere Menschen oder Familien, denen es am Kronthaler Weiher zu hektisch zugeht, dem bekannten Erdinger Badesee. Dort treffen sich die jungen Leute. Sie spielen Beach-Handball oder feiern, wie vor ein paar Wochen, "die größte Strandparty der Stadt". Der Notzinger Weiher ist der Gegenentwurf.

Folge 9: Der Weiher ist heute eine Rückzugsoase für Pflanzen, Tiere und den Menschen.

Der Weiher ist heute eine Rückzugsoase für Pflanzen, Tiere und den Menschen.

(Foto: Renate Schmidt)

Er entstand vor knapp 100 Jahren, als man 1923 nach Kies für den Mittlere-Isar-Kanal baggerte. Sieben Jahre später wurde der See geteilt - der Landwirt brauchte eine Zufahrt. Der Mensch hat den Notzinger Weiher geschaffen und ihn dann der Natur überlassen. Sträucher dürfen sich bis zur Undurchdringlichkeit auswachsen. Die alten Bäume am Ufer wölben sich über das Wasser, als hätten sie große Bäuche. Über die Jahrzehnte ist "eine kleine Wildnis" entstanden, findet Wolfgang Fritz, "quasi aus zweiter Hand". Er ist Ortsgruppenleiter des Bundes Naturschutz in Oberding und kennt keinen Ort im Landkreis, wo sich die Natur so unberührt ausbreiten darf wie hier am Notzinger Weiher. Der Mensch nutzt ihn, das schon. Aber er respektiert ihn auch. "Von Mai bis Mitte September liegt da kein einziges Papier. Das ist ein Zeichen", findet Link.

Folge 9: Heinrich Link arbeitet seit 1971 in seinem Kiosk.

Heinrich Link arbeitet seit 1971 in seinem Kiosk.

(Foto: Renate Schmidt)

1971 hat er seinen Kiosk gebaut. Link hätte auch etwas anderes mit seinem Leben anstellen können. Er, gelernter Feinoptiker, schon mit 21 Jahren Betriebsrat. Die IG Metall bot ihm eine gute Stelle in Frankfurt an. Er lehnte ab. Er brauche nicht viel im Leben, sagt Link. Wieder schaut er hinaus auf den See. Seinen See. Kein Mensch ist da, aber in der Luft ist Leben. Schmetterlinge schwirren, Bienen summen. Meistens quaken auch die Frösche zwischen den Schwertlilien. "Wo kriegst du das noch?", fragt Link den Besucher. Dieser antwortet nur ungern, denn am Notzinger Weiher könnte sich bald einiges ändern.

Weg zum Weiher

Zehn Kilometer östlich von Erding liegen die zwei Seen, die der Volksmund gerne zum "Notzinger Weiher" zusammenfasst. Der Einfachheit wegen. Vor Ort gibt es jedoch feine Unterschiede zu beachten. Die meisten Menschen baden im kleinen Notzinger Weiher. Wahrscheinlich, weil von dort der Weg zum Kiosk am kürzesten ist. Manche, die es noch ruhiger mögen, ziehen sich an den großen Notzinger Weiher zurück. Hier ist das Gebiet noch eine Spur weitläufiger, die Abgeschiedenheit noch größer. Seine Vorzüge schätzten früher besonders diejenigen, die sich unbekleidet am wohlsten fühlen. Es gibt wenige Meter entfernt auch noch einen dritten See, der erst Ende der 70er Jahre entstand. In Anlehnung an seinen Eigentümer wird er "Brandl-Weiher" genannt. Da dieser in privater Hand ist, badet hier niemand.

Der Landkreis Erding will hier einen Jugendzeltplatz bauen. Es gibt den Plan, dem See ein radikales Umstyling zu verpassen: Der ursprüngliche Entwurf sah eine mächtige Terrasse vor, direkt vor Links Kiosk. Dazu Stege für den bequemen Zugang, einen künstlichen Sandstrand und einen Wendehammer hinter Links Kiosk. Genau dort, wo gerade im kleinen Garten die Tomaten wachsen. "Wer das geplant hat, kann unmöglich vor Ort gewesen sein", vermutet Link. Er ist nicht grundsätzlich gegen Veränderungen. Er weiß schon, dass "etwas gemacht gehört". Die Bäume etwas verschlanken, zum Beispiel, das Dickicht bändigen: "Aber mit Maß und Ziel."

Die Notzinger sehen das offenbar genauso. Ende Juli gab es ein Treffen im örtlichen Bürgerhaus, 200 Leute waren da. "Es gab Proteste", erinnert sich Fritz, der Naturschützer. Er glaubt: "Die Leute haben ohnehin das Gefühl, dass sie eingebaut werden." Die Erdinger Nordumfahrung. Der Ringschluss. "Alles notwendig, klar. Aber man wird sehr sensibel, wenn es um die wenigen unberührten Flecken geht." Am Ende lenkte Landrat Martin Bayerstorfer ein. Er will den "Masterplan ein bisschen zurücknehmen". Keine Terrasse, kein Wendehammer. Doch die Debatte werde weitergehen, betont er, "mit neuen Vorschlägen und neuen Begründungen, und dann schauen wir mal, was wir machen". Heinrich Link weiß schon genau, was er machen wird: Er will für den Notzinger Weiher kämpfen. So wie er ist. "Er ist es wert, dass man ihn verteidigt."

Am Donnerstag geht es um das Haspelmoor im Landkreis Fürstenfeldbruck.

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