Erzieherberuf im Wandel:Auf Augenhöhe mit dem Kind

Erzieherberuf im Wandel: Rosi Graf baut eine persönliche Beziehung zu den Kindern auf. Viele kommen später wieder, um im Kindergarten ein Praktikum zu machen.

Rosi Graf baut eine persönliche Beziehung zu den Kindern auf. Viele kommen später wieder, um im Kindergarten ein Praktikum zu machen.

(Foto: Claus Schunk)

Weil ihre Eltern beide arbeiten mussten, hat Rosi Graf vor fast 50 Jahren viel Zeit im Kindergarten St. Bartholomäus in Deisenhofen verbracht. Heute ist sie dort selbst Erzieherin.

Von Margarete Moulin, Oberhaching

An manchen Tagen, wenn die Erzieherin Rosi Graf in der Früh zur Tür des Kindergartens St. Bartholomäus in Deisenhofen hereinkommt, steigt eine Erinnerung in ihr hoch. Es ist sieben Uhr an einem Morgen in den Sechzigerjahren. Ein dunkelhaariges Mädchen, vier Jahre alt, sitzt auf der Stufe vor dem Kindergarten. Um den Hals hängt ihr orangefarbenes Täschchen, darin die Brotzeit. Die Mutter hat das Mädchen noch geküsst und ist dann eilig zu ihrer Arbeitsschicht gegangen. Sehnsüchtig wartet die Kleine eine halbe Stunde lang darauf, dass die "Kindergartentante" kommt und aufsperrt.

"Dieses Mädchen damals auf dieser Stufe, das war ich selbst - vor 48 Jahren", erzählt die Kindergärtnerin. Damals arbeiteten ihr Vater und ihre Mutter in der nahen Fabrik. "Mussten arbeiten", wie sie betont. So ging Rosi, für damalige Verhältnisse ungewöhnlich, von morgens früh bis spätnachmittags in den Kindergarten. "Es war eine Zeit, in der unsere Erzieherin eine weiße Schürze trug, ein wenig wie eine Krankenschwester, und wir sie ,Tante Hilde' riefen", erinnert sich die heute 51-Jährige.

Der Berufseinstieg begann mit einem Praxisschock.

Die Erziehung sei damals "viel strenger, aber warmherzig" gewesen. "Für mich waren der Kindergarten und später der Hort in St. Bartholomäus wie ein zweites Zuhause, ein sicherer Hafen." Als junge Frau entdeckte sie, dass sie gerne mit Kindern arbeitet. Was also lag näher, als genau in der Einrichtung Erzieherin zu werden, in der sie selbst glücklich war? Der Berufseinstieg begann mit einem Praxisschock. Sie bekam mit 21 Jahren die Hortleitung übertragen. "Ich war komplett überfordert", weiß sie noch gut. "Mit 40 Kindern Hausaufgaben machen - ein Martyrium!" Aber sie hielt durch. Heute lacht sie bei der Erinnerung.

Hinter ihr liegen 30 Jahre Berufserfahrung. Und damit drei Jahrzehnte Erziehungsgeschichte, in denen die Pädagogik beständig ihren Fokus verschob. "Dazu haben sich die Familien enorm geändert. Viele Mütter arbeiten, die Kinder verbringen heute bei uns einen Gutteil ihrer Kindheit. Manche sind vom ersten bis zum zehnten Lebensjahr bei uns, von der Krippe bis zur Hortbetreuung in der Grundschulzeit."

Die Kinder sollen ein echtes Gespür bekommen für sich - und andere

Weil sie das selbst erlebt hat, stellt sie über alle Konzepte von Erziehung die Beziehung. Einer Welt der Unverbindlichkeiten und Virtualitäten will sie etwas "G'spüriges" entgegensetzen, wie sie sagt. Den Kindern ein echtes Gespür geben - für sich und andere. Sie weist auf eine Ecke nahe am Fenster, wo ein Vorschuljunge selbstversunken spielt. "Das ist Karl, ein kluger Kopf, aber ein bisschen anders. Er braucht mehr Zeit für sich und manchmal Distanz zu lauten, aktiven Kindern", erklärt sie. Hier darf er das. St. Bartholomäus ist ein integrativer Kindergarten.

"Die Gruppe lernt dabei, das Anderssein nicht Falschsein bedeutet." Sie hat dem Jungen für später, wenn er lesen kann, einen Brief geschrieben, der in seiner Mappe vorne eingeheftet ist. "Lieber Karl, vielleicht fragst Du Dich eines Tages, warum Du nicht ganz so viele Bilder und Bastelarbeiten aus der Kindergartenzeit hast wie andere. Das lag daran, dass Du einfach mit Wichtigerem beschäftigt warst, nämlich damit, für Dich das richtige Maß an Nähe und Abstand zu finden."

Wer Rosi Graf ein paar Stunden lang beobachtet, dem fällt auf, dass sie Kindern über schwierige Momente hinweg hilft, indem sie ihnen Körperkontakt anbietet. Im Morgenkreis wird ein Streit von gestern angesprochen. Rosi Graf macht daraus ein Rollenspiel. Jedes Kind darf sich aussprechen. Ein Mädchen bekommt seinen Paten, ein Vorschulkind, hinter sich gestellt, das andere darf sich bei der Kindergärtnerin anlehnen. Niemand wird bloßgestellt oder als Petze bezeichnet.

Bei aller Hingabe bleibt sie fest. Das zeigt eine Szene. Ein Bub trödelt in der Garderobe, die anderen Kinder sind schon im Garten. Rosi Graf ruft nicht: "Mach dich endlich fertig." Nein, sie geht in die Hocke, sieht dem Jungen in die Augen und sagt: "Ich möchte, dass du deine Schuhe jetzt selbstständig zumachst!" Der Junge sieht ihr in die Augen und erwidert: "Das war aber eine klare Ansage!" Spricht's und erledigt seinen Auftrag.

Im Hort ist zu spüren: Der Schuldruck auf die Kinder ist gestiegen

"Rosi hat ihren Freestyle", bescheinigt ihr Christiane Sperber, die Leiterin des Kindergartens. "Einen, der funktioniert. Anders ist nicht zu erklären, warum viele Deisenhofener, die selbst bei Rosi im Kindergarten waren, ihre Kinder unbedingt bei ihr in die Gruppe geben möchten."

Der Zaun trennt den Kindergarten von der Grundschule. "Oft stehen ,meine' Erstklässler am Zaun und winken mir", sagt die Erzieherin. "Die beobachte ich genau. Und es tut mir weh, wenn das Strahlen aus ihren Gesichtern weicht. Dann weiß ich, etwas läuft in der Schule nicht rund." Manchmal hilft sie im Hort noch aus. Dass sich der Schuldruck auf die Kinder gesteigert hat, merkt sie. "In den Kindern steckt so eine geballte Wucht, wenn sie hier hereinkommen." Dann müsse sie und ihre Kolleginnen so manche Spannung, die im Klassenzimmer ihren Anfang genommen hat, abfedern.

Alles kann auch sie mit all ihrer Erfahrung nicht auffangen. "Wir hatten hier vor kurzem ein Mädchen, das sprach nicht. Wenn wir versucht haben, mit ihm zu reden, hat es eine Wischbewegung gemacht." Rosi Graf lässt den Finger über ein unsichtbares Display sausen. "Das Kind hat versucht, die Gesprächssituation zu beenden so wie man ein Bild auf dem Smartphone wegwischt." Und noch etwas hat sich rapide verändert. In Deisenhofen steht jetzt eine große Traglufthalle für Flüchtlinge. Bald könnten auch Kinder aus fremden Kulturen und Religionen in den katholischen Kindergarten kommen. Rosi Graf beunruhigt das nicht.

Auf die Gastarbeiterkinder folgten die Flüchtlingskinder vom Balkan

"Wir hatten in St. Bartholomäus schon in den Siebzigern und Achtzigern überdurchschnittlich viele Kinder italienischer Gastarbeiterfamilien." In den Neunzigern folgten die Flüchtlingskinder vom Balkan. Dann wurde ein Junge aus Afghanistan gebracht, der auf eine Mine getreten war und in Deutschland behandelt wurde. Er blieb im Ort und ist heute selber Vater. "Jetzt hat er seinen Sohn bei mir in der Gruppe angemeldet!" Stolz und Wärme schwingen in ihrer Stimme mit, als sie das erzählt.

In Deisenhofen gibt es kaum noch Gastarbeiter, die Fabriken sind abgerissen. Eine gut situierte Mittelschicht hat sich angesiedelt. Probleme gibt es deswegen nicht weniger, beobachtet die Erzieherin. "Die klassischen Rollenbilder taugen nicht mehr, das Bedürfnis der Familien, finanziell mit anderen mitzuhalten, hat enorm zugenommen, und Beziehungen werden loser." An Kindergarten und Hort angeschlossen ist inzwischen ein Familienzentrum. "Wir sehen das Kind nicht herausgelöst, wir sehen das ganze Umfeld, in dem es aufwächst", sagt Christiane Sperber, die Leiterin des Zentrums.

Hier finden Familien bei Alltagsproblemen schnell und unkompliziert Rat. Eine Lerntherapie wird gebraucht? Der Babysitter ist weggebrochen? In der Ehe knirscht es, und die Eltern brauchen psychologische Hilfe? Ein Kind verträgt nicht jedes Nahrungsmittel? Eine Mutter möchte beruflich wieder einsteigen und weiß nicht, wie ihren Lebenslauf schreiben? Anstatt von Pontius zu Pilatus zu laufen, bekommen Eltern hier konkret Hilfe und Kontaktadressen.

Rosi Graf mach sich Sorgen über die Zukunft Erzieherberufs

Sorgen macht Rosi Graf die Zukunft des Berufes. Ja, natürlich hätten die Streiks in diesem Sommer etwas bewirkt. "Der Stellenwert der Erzieherin ist gestiegen, auch weil jetzt die Wissenschaft die Bedeutung der ersten Lebensjahre so betont." Die Eltern wüssten genau, dass ein Kindergarten weit mehr leistet, als den Kindern ein paar Stunden "Wohlfühl-Bespaßung" zu geben. Aber was nutzt es, wenn der neu gewonnene Stellenwert und die Bezahlung nicht stimmig sind? "Eine Berufsanfängerin bekommt monatlich 1100 Euro netto. Wie soll man damit in München leben?" fragt sie. Sie wisse von jungen Kindergärtnerinnen, die nebenher arbeiten müssten. "Eine unterrichtet Zumba-Kurse, die andere verdient mit Tupperware etwas dazu."

Es ist Mittagszeit, hungrig poltert eine Gruppe Schulkinder in den Hort. Sie laufen zur Küche, aus der es duftet. "Was gibt's heute?" rufen sie hinein. "Spinatknödel!" ruft die Köchin hinaus. "Iii, Spinat!" antwortet einer. "Oh, lecker", entgegnet ein anderer. Wie zu Hause halt. In der Küche hilft ein junger Mann, ein ehemaliger Zögling von Rosi Graf. Das ist auch so ein Phänomen: Regelmäßig fragen großgewordene Kinder bei ihr an, die im Zentrum ein Praktikum machen wollen.

Darüber ist sie froh. Denn für ihr Wagnis, mit Kindern eine echte Bindung einzugehen, bezahlt sie einen Preis. "Ein Kind hat vor kurzem zu mir gesagt: Du wirst sehr traurig sein, wenn ich weg bin!" Jetzt beginnen die Augen der Erzieherin zu glitzern. "Es stimmt: Wenn sie gehen, geht auch ein Stück von mir." Sie wischt sich hinter ihren Brillengläsern mit dem Zeigefinger die Augenwinkel. "Aber", sagt sie, "viele kommen ja wieder, es hat sich vergangene Woche wieder ein Mädchen zum Praktikum angemeldet." Warum sie nie aufhören wird, für Kinder zu brennen? "Auch wenn Schlawiner und echte Bazis drunter sind - Kinder sind immer echt.

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