"Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich." Der Zweite Weltkrieg hat gerade erst begonnen, als Sophie Scholl mit diesen Worten ihrer Bestürzung Ausdruck verleiht. Rund 80 Jahre später steht am Montagabend eine junge Schülerin auf der Bühne im Haarer Ernst-Mach-Gymnasium, nur schwach beleuchtet. Um sie bewegt sich eine Gruppe weiterer Darstellerinnen, als sie ihre Stimme erhebt: "Sophie, ich bin Nelly und es bedrückt mich, dass Menschen, sogar Kinder, im Ukraine-Krieg sterben."
Es ist eine drastische Parallele, mit der die Haarer Schülerinnen in ihrer Theater-Performance "Sophie!" klar machen, wie erschreckend aktuell die Geschichte der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus auch heute noch ist.
Ursprünglich war das von der Bürgerstiftung Haar und der Weiße-Rose-Stiftung unterstützte Stück bereits anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl im vergangenen Jahr entwickelt worden, wie Thomas Ritter erklärt, der als Betreuer der Theatergruppen am Haarer Gymnasium gemeinsam mit Farina Simbeck auch das mehrfach ausgezeichnete und europaweit aufgeführte Projekt "Spurensuche" begleitet hatte. Pandemiebedingt konnte die Aufführung jedoch erst am Montagabend Premiere feiern.
Was für ein Mensch war Sophie Scholl? Sie liebte Musik und die Natur, tanzte manchmal eigensinnig, erfährt der Zuschauer. Eingestreut in die historische Charakterisierung der Widerstandskämpferin sind auch biografische Sätze der jungen Darstellerinnen: "Ich werde auch mal Biologie studieren, wie du", verkündet eine Schülerin. Eine andere gibt Einblicke in ihre Gefühlswelt, sie sei oft traurig, vielleicht sogar depressiv. Ihre Mitschülerin erzählt von einem Jungen, für den sie schwärmt.
Die gleichaltrigen Darstellerinnen versuchen in ihrem Stück, die berühmte Freiheitsikone greifbar zu machen
Gerade für die jungen Schülerinnen - die Darstellerinnen sind zwischen zwölf und 16 Jahre alt - müssen die Geschehnisse rund um Sophie Scholl wie aus einer anderen, lange vergangenen Zeit erscheinen. Und doch gelingt es ihnen, die Figur der oft stark idealisierten Freiheitsikone greifbar zu machen, sie insbesondere über die eigenen persönlichen Einblicke nahbar wirken zu lassen. Die Lebenswelt der Jugendlichen spiegelt sich dabei in Zitaten aus Sophie Scholls Tagebüchern wider: Es geht um Unsicherheiten, Zukunftsträume und erste romantische Gefühle.
Ein Briefwechsel der jungen Frau mit ihrem Geliebten Fritz Hartnagel wird vorgelesen, mit beinahe noch kindlicher Schwärmerei in der Stimme, zart und schüchtern. Manchen der jungen Schülerinnen dürften diese Emotionen durchaus vertraut vorkommen - wenn auch die Kommunikation heute wohl kaum noch über Briefe stattfindet.
Vor allem diese Szenen sind es, die zeigen, wie menschlich Sophie Scholl war, sagt Darstellerin Annely. "Natürlich ist es total wichtig, was sie getan hat, aber sie ist nicht nur diese Ikone." Ihre Mitschülerin Sophie fügt hinzu: "Sie war auch nur ein Mädchen wie wir, das auch mal verliebt war."
Genau dieses Ziel hat Thomas Ritter eigener Aussage nach verfolgt: Die Figur Sophie Scholl sei zuletzt geradezu unnatürlich überhöht worden. "Wir wollten nicht zu stark in diese Verherrlichung eintreten, auch wenn es natürlich beeindruckend ist, wie standhaft sie in ihrem Alter war." Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die Aktivistin greifbar zu machen. Dass Scholl zur Zeit ihrer Hinrichtung nur wenige Jahre älter war als die Schülerinnen, macht das laut Ritter besonders gut möglich. "Durch die Auseinandersetzung mit Sophie Scholl haben die Jugendlichen viel mehr von sich selbst wiedergefunden als erwartet."
Der Entwicklung des Stücks ist Ritter zufolge ein intensiver Rechercheprozess vorangegangen. Die Gymnasiastinnen hätten sich ausführlich mit den Tagebüchern Scholls beschäftigt, ihr Grab sowie das NS-Dokumentationszentrum besucht. Diese Herangehensweise habe die Geschehnisse auf ganz andere Weise vermittelt, als es sonst im Unterricht passiert, sagt Sophie, eine gleichnamige Schülerin. "Erst so ist einem wirklich klar geworden, wie schlimm das alles war." Im Doku-Zentrum waren die Darstellerinnen mit schrecklichen Bildern konfrontiert. Annely: "Da waren Fotos von aufeinanderliegenden Leichen zu sehen."
Schlimme Bilder gibt es aktuell wieder in den Nachrichten. Der Krieg in der Ukraine belastet die Schülerinnen eigenen Aussagen nach, das zeigt sich auch in ihrem Stück. In einer chronikartigen Darstellung werden Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. "1941: Schlacht um Kiew", liest ein Mädchen. Schlagartig verstummt die hastige Musik, die Lichter gehen aus. Eine zweite Schauspielerin tritt ans Mikrofon: "2022: Schlacht um Kiew".
"Das rückt die damaligen Ereignisse so viel näher an uns heran", findet Darstellerin Tomma. "Aber mit dem Stück möchten wir auch zeigen, dass man etwas tun kann", ergänzt Annely. Der Krieg betreffe nicht nur Erwachsene, sondern auch Jüngere. "Die haben nur meistens nicht viel zu sagen." Sophie Scholl hat es trotzdem geschafft.
Weitere Aufführungen von "Sophie!" am 17., 18. und 20. Mai um 19 Uhr sowie am 21. Mai um 15 und 19 Uhr im Ernst-Mach-Gymnasium Haar, Jagdfeldring 82. Karten können per Mail an theater@emg-haar.de oder über www.blickwechsel.theater reserviert werden.