Gedenkkultur:Kreativ gegen die illiberalen Gefährder

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Debattieren im Gesellschaftshaus des Klinikums in Haar über Demokratie und Erinnerungskultur: Peter Brieger, Andreas Bukowski, Maike Rotzoll, Sybille von Tiedemann, Mirko Bialas sowie Moderator Thomas Stöckle (von links). (Foto: Claus Schunk)

Im Gesellschaftshaus des Haarer Isar-Amper-Klinikums diskutieren Experten über den Zustand der Demokratie und die Perspektiven der Erinnerungsarbeit in einem zunehmend rechtspopulistisch geprägten Klima.

Von Laura Geigenberger, Haar

Das erste Zitat, mit dem Moderator Thomas Stöckle die Podiumsdiskussion am Samstag im Gesellschaftshaus des Haarer Isar-Amper-Klinikums einleitet, stammt von Carl Schmitt, politischer Theoretiker und als „Kronjurist des Dritten Reiches“ berüchtigt: „Zur Demokratie gehört notwendigerweise: erstens Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“, schrieb Schmitt 1923 in seiner kritischen Abhandlung über den Parlamentarismus. Der Urheber der zweiten Aussage, die Stöckle herausgesucht hat, ist unbekannt – schließlich hatte er den Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ nicht signiert, mit dem er vor wenigen Wochen die Glastür einer Behinderteneinrichtung in Mönchengladbach einwarf.

Der Satz ist als Anspielung auf das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm zu verstehen, das den Mord an tausenden, als „rassisch minderwertig“ stigmatisierten Menschen in der NS-Zeit zur Folge hatte. Ein Einzelfall ist das nicht mehr – die rechten Überzeugungen in Deutschland würden immer spürbarer, sagt Stöckle. Mit fünf Mitstreitern diskutiert der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck am Samstag vor einem rund dreißigköpfigen Publikum über den Zustand der Demokratie und die Perspektiven der Erinnerungsarbeit in einem zunehmend rechtspopulistisch geprägtem Klima. Auf dem Podium: Soziologe Mirko Bialas vom Selbsthilfe-Verein „Münchner Psychiatrieerfahrene“ (Müpe), die Historikerinnen Sibylle von Tiedemann und Maike Rotzoll, Andreas Bukowski, Bürgermeister der Gemeinde Haar (CSU), sowie der ärztliche Direktor des Isar-Amper-Klinikums, Peter Brieger.

Laut dem „Varieties of Democracy Index“, einer der größten Demokratie-Datenbanken der Welt, existieren aktuell 32 liberale Demokratien weltweit, neben 33 geschlossenen Autokratien und über einhundert hybriden Regimen. Die deutsche Staatsform ist bislang als „liberal“ eingestuft – doch das könnte sich bald ändern, warnen die Diskussionsteilnehmer. Sie sehen insbesondere in der AfD-Partei eine Bedrohung für die hiesige Demokratie. Die jüngsten Wahl- und Umfrageergebnisse deuteten darauf hin, dass hierzulande eine Entwicklung in Richtung einer „illiberalen“ Demokratie drohe – ein Regierungssystem, das formell zwar demokratische Merkmale aufweist, in dem grundlegende Freiheiten und Rechte jedoch stark eingeschränkt sind.

Die Erinnerungskultur und womöglich die Moral- und Wertevorstellung der Gesellschaft könnten dabei großen Schaden nehmen, befürchtet die Marburger Medizinhistorikerin Maike Rotzoll. „Eine illiberale Demokratie würde infrage stellen, worauf wir mit den Gedenkinitiativen hinarbeiten: darauf hinzuweisen, dass wir Wertehierarchien – das Werten und Abwerten von Menschengruppen – nicht anerkennen wollen“, sagt sie. Der Soziologe Mirko Bialas warnt gar vor einer möglichen „Homogenisierung“ und „Eindimensionalisierung“ der historischen Narrative, indem Rechtspopulisten die Vergangenheit glorifizierten, während kritische Auseinandersetzungen verdrängt oder unterdrückt würden. „Ich habe die Befürchtung, dass in einer illiberalen Demokratie nur noch Reflexe, nicht das Reflektieren bedient wird. Das hat mit einer ’Erinnerungskultur’ nichts mehr zu tun“, so Bialas.

Laut Peter Brieger, ärztlicher Direktor des Isar-Amper-Klinikums, komme der Gedenkkultur eine „ganz andere“ gesellschaftliche Bedeutung zu als noch vor zehn Jahren. (Foto: Claus Schunk)

Um diese Wende zu verhindern, müsse laut Peter Brieger ein „Grundkonsens der Erinnerungsgemeinschaft“ geschaffen werden, der alle Schichten der Gesellschaft durchdringen könne. Uneins sind sich die Diskutierenden darüber, wie eine Forcierung der Gedenkarbeit gelingen kann – und ob dafür, wie vom Moderator Stöckle angeregt, „radikal neue Wege“ beschritten werden müssen. „Mit Social-Media-Plattformen wie Tiktok oder Instagram erreicht man innerhalb kürzester Zeit eine Anzahl vor Menschen, für die wir sonst zehn Jahre brauchen“, sagt er.

Für „kreativere Ansätze“ plädiert auch Bukowski und verweist auf Beispiele aus der Gemeinde. Die Theatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums etwa, die für ihre Produktionen zur NS-Vergangenheit des Klinikums bekannt ist, oder die von Schülern errichtete Gedenkstätte im Jugendstilpark für die rund 300 Haarer „Kindereuthanasie“-Opfer. „Geschichten müssen erzählt, einzelne Schicksale sichtbar gemacht werden; man muss sich auf unkonventionelle Wege einlassen und Kontroversen erzeugen“, so Bukowski. Sibylle von Tiedemann, Historikerin am Kulturreferat München, sowie Mirko Bialas wollen dagegen schon früh mit Aufklärung ansetzen „Man muss Jugendlichen deutlich machen, dass die Demokratie die beste Staatsform ist – auch wenn sie keine einfache ist – und was mit ihr verloren gehen würde“, sagt Tiedemann. Bialas wolle der neuen Rechten begegnen, indem er „die Fakten sprechen“ lasse: „Der Zwilling vom Sichtbaren ist das Sagbare.“

Historikerin Sybille von Tiedemann plädiert für frühe Aufklärung über die Vorzüge der Demokratie. (Foto: Claus Schunk)

Im Anschluss an die Runde wird dem Publikum das Wort erteilt. Eine ältere Dame hat für die Idee des „digitalen Gedenkens“ im Social-Media-Format nur Kritik übrig: „Wie ernsthaft ist die Frage nach Gedenken noch, wenn man sich mit Tiktok auf eine Ebene stellt?“ Im Gegenteil, der AfD müsse heutzutage online begegnet werden, widerspricht ihr ein junger Mann: „Aber es muss halt gut sein.“ Renate Rosenau, selbst in der Gedenkarbeit tätig, meint, der Geschichts- und Sozialkundeunterricht müsse junge Menschen an die Erinnerungskultur heranführen und sie besser auf Wahlen vorbereiten.

Auch wenn sich die Zukunft der deutschen Demokratie nicht abschätzen lasse, sei sicher, dass die Erinnerungsarbeit fortgeführt werde – und fortgeführt werden müsse, sagt Peter Brieger. Heutzutage komme der Gedenkkultur eine „ganz andere“ gesellschaftliche Bedeutung zu als noch vor zehn Jahren. Deswegen dürfe man gerade jetzt nicht aufgeben: „Das Alte ist nicht wertlos. Aber wir müssen das Neue auch weiterentwickeln.“

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