Erinnerung:"Den Schatten der Geschichte ausleuchten"

Der Künstler Werner Mally über seine Gedenkskulptur "Restlicht", die im Haarer Jugendstilpark in einem Bereich der früheren Klinik die Patientenmorde während der NS-Zeit im Bewusstsein halten soll

interview Von Bernhard Lohr

Die Heil- und Pflegeanstalt Haar war während der Zeit des Nationalsozialismus ein Tatort. Dort wurden im Zuge der sogenannten T4-Aktion Psychiatrie-Patienten selektiert und in Tötungsanstalten geschickt. Andere wurden direkt auf dem Klinikgelände durch gezieltes Aushungern und mit Hilfe von entsprechenden Medikamenten ermordet. Tausende verloren ihr Leben. In dem Bereich der früheren Klinik, der verkauft wurde und wo ein Wohngebiet für 2000 Menschen entsteht, soll die "Restlicht"-Skulptur des Münchner Künstlers Werner Mally die Patientenmorde im Bewusstsein der Menschen halten - auf dass so etwas nie wieder geschehe.

SZ: Herr Mally, demnächst wird eine Installation von Ihnen im Wohngebiet Jugendstilpark aufgestellt, die an die Ermordung von Psychiatrie-Patienten auf dem ehemaligen Klinikgelände erinnert. Was für eine Bedeutung hat das für Sie?

Werner Mally: Es ist mir wichtig, dass im neuen Jugendstilpark an die Geschichte dieses Ortes erinnert wird, und zwar auf einer emotionalen Ebene, bei der sich Geschichte ins Bewusstsein einschreibt. Die Konstruktion der Gedenkskulptur ist leicht, offen hat zunächst nichts Bedrückendes. Aber: Wenn man sich an einem sonnigen Tag unter "Restlicht" aufhält und die Zahlen nicht nur am Boden, sondern am eigenen Körper sieht und spürt, dann hat diese sinnliche Erfahrung das Potenzial zur Irritation und damit zur einer intensivierten Wahrnehmung dieses Ortes und seiner historischen Dimension.

Sie hatten fast drei Jahre lang ihr Atelier auf dem Klinik-Gelände in Haar. Sie waren nah dran am Psychiatrie-Geschehen.

Das war in dem Bereich, wo auch weiterhin Psychiatrie-Betrieb sein wird. Ja, man fährt jeden Tag ins Atelier und trifft die Patienten auch als Nachbarn. Das hat mich fasziniert und deshalb ging ich auch in das benachbarte Caféhaus auf dem Gelände. Es war mein bisher größtes Atelier mit einem riesigen Garten und gerne wäre ich dort geblieben.

Ihre Installation mit dem Namen Restlicht entstand eigentlich in einem anderen Kontext, das hatte mit Psychiatrie nichts zu tun.

Unmittelbar im Anschluss an mein Studium an der Akademie in Wien und München wurde ein Wettbewerb für die abgebrannte Synagoge in Schwerte im Rheinland ausgeschrieben. Für diesen Ort entstand meine erste Tageslichtprojektion: Je nach Sonnenstand wären im Laufe des Tages einige Zahlen und das Symbol eines Davidsterns vom Sockel der ehemaligen Synagoge auf den Gehweg "abgestiegen". Aber wie so oft hat sich Belanglosigkeit durchgesetzt: statt dem Ort einer Erfahrung, wurde im Boden eine Bronzetafel versenkt, die niemanden interessiert.

Das soll in Haar anders sein. Bei Ihrem Restlicht-Kunstwerk werden durch Löcher in einer Art Baldachin Lichtpunkte auf den Boden projiziert, die die Jahreszahlen 1938 bis 1945 sichtbar machen. Wieso diese Jahreszahlen?

Mit ihnen ist der dunkelste Schatten der deutschen Geschichte erfasst: In der Reichspogromnacht beginnt die Aggression gegen eine deutsche Minderheit und mit dem "Münchner Abkommen" die gegen ein kleines benachbartes Land.

München, Haar,  Werner Mally, Künstler, der den Gedenkort für die 'Euthanasie'-Opfer am Klinikum Haar gestaltet. Treffen im Atelier, Kistlerhofstraße, Foto: Angelika Bardehle

Die poetische Leichtigkeit der projizierten Lichter: Werner Mally in seinem Atelier.

(Foto: Angelika Bardehle)

Der erste Transport von Patienten in eine Tötungsanstalt ging am 18. Januar 1940 von der Heil- und Pflegeanstalt Haar aus. Es war der Beginn der gezielten Tötung in der zentral und staatlich gesteuerten T4-Aktion.

Was besonders tragisch und heimtückisch war, dass Schutzbefohlene von Ärzten umgebracht wurden: Jemand der hilfsbedürftig und auf Hilfe von Ärzten angewiesen ist, erfährt das Gegenteil dessen, was ihm im Sinne des Hippokratischen Eides zugesichert wurde. Das ist erschütternd und entzieht sich jeglicher Darstellung. Ich gehe deshalb nicht davon aus, dass dieses Werk das Geschehene in irgendeiner Form wird erfassen können. Aber der täglich in einem großen Bogen wandernder Schatten wird im Laufe der Zeit seine eigene Sprache entwickeln.

Die Jahreszahlen sind in fortlaufender Folge in eine Art Baldachin eingebohrt. Das ist alles nicht ganz zufällig.

Die Grundidee stammt aus der jüdischen Tradition des Hochzeitsbaldachins - der Chuppah. Vier Männer spannen dabei über vier Stäbe ein Tuch und unter diesem tragbaren Raum findet dann die Hochzeitszeremonie statt.

Das lässt sich übertragen auf die Welt der Patienten, der Schutzbefohlenen.

Die wird hier zu einer Falle und der Schutzraum kippt in etwas unfassbar Zerstörerisches.

Schutzraum - Falle?

Genau dieser Widerspruch. Da ist diese nahezu poetische Leichtigkeit der projizierten Lichter, die man noch nicht als Tätowierung und Stigmatisierung erlebt. Aber wenn aus zuvor schillernden Namen nur noch Nummern werden, endet jeglicher Schutzstatus, die Moral und schließlich der letzte Rest von Menschlichkeit.

Die Jahreszahlen wandern im Lauf des Tages mit der Sonne über den Boden.

Die konischen Bohrungen in der Stahlplatte machen es möglich, dass das Sonnenlicht schon am frühen Vormittag bis spät am Nachmittag durch die Öffnungen einfällt: Frühmorgens sind die Zahlen diffus, unscharf, alles ist ungewiss und man ahnt nicht, was sich hier zuspitzt. Mittags bei hohem Sonnenstand sind sie unter dem Baldachin präzise lesbar, während sie sich am Nachmittag in Richtung Kinderhaus wieder verlieren. Dieser Prozess ist Teil der Arbeit an der Erinnerung: Je weiter die Zahlen weg sind, desto schwieriger sind sie lesbar oder lösen sich ganz auf.

Ihr Kunstwerk wird an einem zentralen Ort in dem Wohngebiet auf einer Ebene stehen - in Sichtweite von Gebäuden, in denen Menschen starben.

Noch ist es eine große Wiese, umgeben von Bäumen, auf der später mit einem Belag die Projektionsfläche definiert wird. Zudem ist es eine Seltenheit, denn dieser Platz wird den ganzen Tag schattenlos der Sonne ausgesetzt sein.

Der Großvater Ihrer Frau brachte Sie dazu, sich mit den NS-Verbrechen, speziell der Shoah zu beschäftigen.

Vermutlich liegt jedem wichtigen Werk auch eine biografische Ebene zugrunde. Der Großvater meiner Frau hat als einziger seiner jüdischen Familie die KZs Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Schwarzheide überlebt. Für mich war er außerdem der erste Mensch, auf dessen Arm ich eine tätowierte Nummer las. Er wurde zur Nummer 168514 gemacht. Diese sorgfältig ausgeführten Einstiche in die Haut zu sehen, machten mich sprachlos und haben mich nachhaltig geprägt. Ihm habe ich auch die Publikation zu "Restlicht" gewidmet.

Haar, Rathaus, Aufstellung der Skulptur Restlicht

Die 2015 vor dem Haarer Rathaus aufgestellte Skulptur "Restlicht", im Bild wird Mally von Bürgermeisterin Gabriele Müller und Jörg Hemmersbach vom Isar-Amper-Klinikum eingerahmt, kommt in den Jugendstilpark.

(Foto: Angelika Bardehle)

Es gibt Ihre Restlicht-Installation heute zwei Mal. Ein Exemplar steht in Haar, heute schon am Rathaus, und wird bald im Jugendstilpark stehen. Eine ist an wechselnden Standorten zu erleben. Wie kam das Werk überhaupt nach Haar?

Die Verbindung kam über das Atelier in Haar zustande und war insgesamt ein großer Glücksfall. Kaum eingezogen, bekam ich überraschend Besuch von Bürgermeister Helmut Dworzak und von Ute Dechent. Nach dem Angebot zu einer Ausstellung im Rathaus kam es später zu Gesprächen über ein Werk im öffentlichen Raum, und Einladungen zu Wettbewerben. Heute steht vor dem Bürgersaal die Stahlplastik "Sphäre" mit ihrer zweidimensionalen Entsprechung "Matrix". Für die Tagesstätte in der Dianastraße entstand 2011 der Pavillon "Ursa Mayor" und als 2012 "Restlicht" auf der Südseite des Siegestors stand, muss es auch Herr Dworzak mitbekommen oder gesehen haben.

Und dann hat er Sie gefragt, ob Ihre Skulptur einen Gedenkort für die "Euthanasie"-Opfer in Haar markieren könnte?

So einfach war das nicht. Davor hat ein weißer Prägedruck zu Restlicht, auf dem es fast nichts zu sehen gab, zwischen Herrn Dworzak, anderen Beteiligten und mir viele Diskussionen ausgelöst. Es folgte der Gedankensprung, darüber nachzudenken, ob Restlicht nicht geeignet wäre, an die Aktion T4 in Haar zu erinnern. Zeitgleich lief ein Wettbewerb zur Aktion T4 in Berlin, zu dem ich mit dem Büro Plan2 eingeladen war. Aber ich glaube, dass ihn die Einfachheit der Konstruktion von Restlicht, die seitenrichtig und seitenverkehrt mäandernden Jahreszahlen, sowie deren vielfältige Interpretation überzeugt und veranlasst haben, darüber auch mit der Klinikleitung nachzudenken. Als die dem zustimmte, hat Bürgermeisterin Gabriele Müller den Auftrag für dieses Werk erteilt und mit der provisorischen Aufstellung am Rathaus Tatsachen geschaffen.

Wieso überhaupt der Name Restlicht?

Es ist nicht einfach, so einem Werk den Begriff zuzuordnen, der den Nerv der Zeit trifft und andererseits unabgeschlossen offen bleibt. Worum es aber primär geht, ist, dass wenig Sonnenlicht ausreicht, um diesen kollektiven und regionalen Schatten der Geschichte weiterhin auszuleuchten. Das Geschehen ist ja nicht Lichtjahre entfernt, nur weil wir es gerne hätten.

Es waren dunkle Jahre der Geschichte, über die wir sprechen. Aber vieles blieb auch später im Dunklen. Aufklärung tut bis heute not.

Zur Wahrheit gehören nicht nur Fakten, sondern die Fähigkeit, sie auszuhalten und anzuerkennen. Licht und Bewusstsein haben hier quasi eine gemeinsame Geschichte. Die Gedenkskulptur leuchtet nicht nur eine dunkle Seite der Geschichte aus, sondern versteht sich auch als Forum und Einladung, diesen Ort für aktuelle Erkenntnisse oder Ereignisse zu nutzen.

Auf dass im Bewusstsein festgehalten wird, was auf dem ehemaligen Klinikgelände und in dem jetzigen Wohngebiet während der NS-Schreckensherrschaft passiert ist.

Genau.

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