Einfach nur anders (8): Leben mit HIV:"Ich lasse mich nicht abdrängen"

Die Nachricht - ein Schock: Als Gabriele T. und Mike E. von ihrer HIV-Erkrankung erfahren, bricht für sie eine Welt zusammen. Inzwischen leben beide seit Jahren mit dem Virus. Und Gabriele T. sagt: "Ich werde genauso alt wie jeder andere."

S. Sälzer

Gabriele T. hält den Telefonhörer fest, atmet kurz durch und spricht dann ruhig diesen einen Satz aus, der ihr seit Tagen im Kopf herumschwirrt: "Warum hast du mir nichts davon erzählt?" Sie kannten sich schon lange, hatten eine kurze Affäre, verloren sich dann wieder aus den Augen. Und doch ist es, als ob ein unsichtbares Band beide für immer vereint: Denn sie tragen das HI-Virus in sich. "Ich habe es selber erst vor kurzem erfahren", sagt der Mann am anderen Ende der Leitung. "Es tut mir Leid." Dann legt er auf.

Mike Eggleton, HIV-Positiv, Serie: Einfach nur anders

Mike E. weiß seit dem Ende der 80er Jahre von seiner HIV-Infektion.

(Foto: Simone Sälzer)

Auch Mike E. hat sich mit HIV infiziert. Er erinnert sich an ein Titelbild des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von 1983. Zwei nackte Männer berühren sich. Die Genitalien sind von einer kreisrunden, mikroskopischen Aufnahme verdeckt. Mike, ein 65-jähriger Engländer, nickt, so als würden die Bilder von damals als Kurzfilm in seinen Gedanken ablaufen. Er erinnert sich auch an den skurrilen Maßnahmenkatalog von Peter Gauweiler. Der CSU-Politiker forderte noch im Jahr 1987 als Staatssekretär im bayerischen Innenministerium Zwangstests für Homosexuelle bis hin zur Isolierung - allerdings ohne Erfolg. Doch die Angst der anderen lässt Mike E. unbeeindruckt. Erst als ehemalige Partner von ihm sterben, lässt er sich testen. Dann die Gewissheit: Auch er hat das Virus.

Wie Gabriele T. und Mike E. leben derzeit in Deutschland nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts etwa 70.000 Menschen mit dem HI-Virus, 57.000 davon sind Männer. In München sind etwa 5000 Menschen infiziert. Im vergangenen Jahr wurden deutschlandweit etwa 3000 Neuinfektionen registriert, seit zwei Jahren stagnieren die Zahlen nachdem sie lange gestiegen waren.

Gabriele T. hat vor etwa sieben Jahren von ihrer Infektion erfahren. Bei einer Routine-Untersuchung, wegen Schmerzen in der Speiseröhre. "Danach hatte ich ständig den Tod vor Augen", sagt die technische Redakteurin, die heute 54 Jahre alt ist. Erst als sie sich mit der Krankheit intensiv auseinandersetzt, findet sie den Weg aus dem schwarzen Loch. Es hilft ihr, mit anderen zu reden. "Heute gehört HIV zu meinem Alltag. Durch den bewussten Umgang damit kann ich das Leben wieder genießen."

Mike E. erfährt an einem Morgen Ende der 80er Jahre von seiner Infizierung. Am Abend geht er wie immer zum Kartenspielen. "Ich wollte genauso weiterleben wie vorher", sagt Mike E. Er verdrängt die Krankheit. Dennoch: Als er einen schweren Husten bekommt, steigt Panik in ihm auf. Er denkt, die Krankheit breche aus. "Schwule und Aids", bedauert der 65-Jährige. "Für die Gesellschaft sind wir noch immer die schuldig Infizierten, wir werden mit den Drogenabhängigen in eine Schmuddelecke gestellt." Doch Sexualität gehöre doch zum Leben eines jeden.

"Gehöre ich zu einer Randgruppe?"

Gabriele T. erzählt: "Ich habe - wie wohl jeder schon einmal in seinem Leben - ohne Kondom mit jemandem geschlafen", sagt sie. "In meiner Jugend hieß Verhütung, nicht schwanger werden. Dafür gab's die Pille. An sexuell übertragbare Krankheiten dachten wir nicht und benutzten also auch keine Kondome." Ihrem ehemaligen Partner macht sie keine Vorwürfe, dass er sie angesteckt hat.

Die Wangen von Mike E. sind leicht eingefallen. Durch die Medikamente bildete sich bei ihm ein Stiernacken, der operativ korrigiert werden musste. Er ist schlank, auch das sind die Folgen der Medikamente. Früher musste er bis zu 15 Pillen am Tag schlucken, heute sind es dank des medizinischen Fortschritts nur noch vier. Dennoch: Seit der Diagnose Ende der 80er Jahre war der gebürtige Engländer noch nie ernsthaft krank. Von der Infektion gezeichnet sieht der 65-Jährige mit den grau melierten Haaren wahrlich nicht aus. Seine Gesichtszüge wirken markant, die blauen Augen strahlen Lebensfreude aus. Mit T-Shirt und Jeans sieht Mike E. noch immer jugendlich aus.

"Gehöre ich jetzt zu einer Randgruppe?", ist einer der ersten Gedanken, die Gabriele T. durch den Kopf schießen, als sie die Diagnose erhält. "Ich lasse mich nicht abdrängen!", der nächste. Ablehnung erlebt sie nur da, wo sie es am wenigsten vermutet: Ein Arzt fragt sie entsetzt, wie das denn passiert sei. Als sie blutet reagiert eine Arzthelferin panisch und fürchtet, sie könne alle anstecken. "Meine Viruslast ist seit langer Zeit nicht mehr nachweisbar, so dass ich schwerlich jemanden anstecken könnte." Sie will anderen Betroffenen Mut machen, über die Infektionsgefahren und den verantwortungsvollen Umgang mit der Krankheit aufklären - und engagiert sich seit ihrer Diagnose ehrenamtlich. "An Aids muss heute eigentlich niemand mehr sterben."

Als Therapie werden meist mehrere Medikamente gleichzeitig eingesetzt. Diese seit 1995 angewandte Kombinationstherapie bewirkt, dass sich nach einiger Zeit kaum noch Viren im Blut befinden. Allerdings hat sich die Zahl der Tabletten, die die Betroffenen einnehmen müssen, stark verringert. So musste Mike E. früher bis zu 15 Pillen am Tag schlucken, heute sind es nur noch vier.

Negative Erfahrungen macht der 65-Jährige kaum, als er sich zu seiner Krankheit bekennt. Er erzählt Freunden und seinem Chef von dem Virus - und ist erleichtert. Sie reagieren verständnisvoll. Seine Eltern lernen, die Infektion anzunehmen. Seine Partner laufen nicht davon, als er ihnen davon erzählt. Seine Freunde stehen auch weiter zu ihm. Er kennt aus seinem Bekanntenkreis aber auch negative Beispiele. "Die Frau eines Infizierten trinkt nicht mal mehr aus dem gleichen Glas", erzählt er. Arbeitgeber kündigen wegen der Ansteckungsgefahr ihrem infizierten Mitarbeiter. Eine Zahnärztin lehnt die Behandlung mit der Begründung ab, sie sei nicht abenteuerlustig. "Aids gilt als schmutzige Krankheit", sagt er. "Viele sind noch immer nicht aufgeklärt."

Wie alt wollen die beiden werden? "Ich werde genauso alt wie jeder andere, das kann 70, 80 oder 90 sein", sagt Gabriele T. "Ich sehe meine Lebenserwartung durch HIV absolut nicht eingeschränkt." Auch Mike E. lacht. "Jetzt bin ich schon 65 Jahre alt", sagt er. "Ich hätte früher nie im Traum daran gedacht, dass ich so alt werde." Gerade hat er seine Wohnung renoviert, sagt er. "Ich muss also noch mindestens zehn Jahre durchhalten."

In München leben mehr als 5000 Menschen mit dem HI-Virus. Ansprechpartner ist Michael Tappe, der fachliche Leiter von der Münchner Aidshilfe: Lindwurmstraße 71, Tel.: 089/54333-104, Fax: 089/54333-111, Mail: michael.tappe@muenchner-aidshilfe.

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