Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie "Das erste Jahr":Theaterdonner im Festsaal

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Im Unterschleißheimer Stadtrat war stets das Duell SPD gegen CSU prägend. Doch seit einem Jahr arbeiten sich die Christsozialen lieber an den Grünen ab. Und das hat auch mit verletztem Selbstbewusstsein zu tun.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

Mit großen Ambitionen ist Stefan Krimmer in den Kommunalwahlkampf im vergangenen Frühjahr gezogen. Das Ziel für den omnipräsenten Christsozialen war klar: Den amtierenden SPD-Bürgermeister Christoph Böck aus dem Amt zu drängen und das Rathaus für die CSU zurück zu erobern. Doch dann kam alles ganz anders: Es reichte für Krimmer nach der Wahl nicht einmal für das Amt des stellvertretenden Rathauschefs. So ist das, wenn sich Mehrheitsverhältnisse ändern.

Krimmer sagt nach einem Jahr zur neuen Situation im Stadtrat der einwohnerstärksten Kommune des Landkreises lapidar: "Es ist, wie es ist." Ein Grüner ist jetzt Stellvertreter von Christoph Böck. Und das hat neben den neuen Mehrheitsverhältnissen auch mit etwas Glück zu tun - oder Pech, wenn man es aus Krimmers Sicht betrachtet: Denn bei der Wahl des ersten Stellvertreters gab es ein Patt, was einen Losentscheid zur Folge hatte. Und den gewann der Grüne Tino Schlagintweit - gegen Krimmer.

Das waren die ersten Turbulenzen im neu gewählten Stadtrat vor einem Jahr. Die Unterschleißheimer hatten sich zuvor allerdings für Kontinuität entschieden. Bürgermeister Christoph Böck (SPD) verteidigte seinen Posten. Die CSU verlor bei der Kommunalwahl ein paar Sitze, die Grünen gewannen hinzu. Dennoch war diese Wahl in Unterschleißheim auf den Landkreis bezogen ein nahezu singuläres Ereignis: Denn erstmals zog die Alternative für Deutschland (AfD) in ein kommunales Gremium ein. Ein Erfolg der ihr im selben Ausmaß gleichzeitig auch im Kreistag gelang.

Die Arbeitsbedingungen im Stadtrat sind seit einem Jahr auch coronabedingt außergewöhnlich. Die Stadträte sitzen im Festsaal des Rathauses hintereinander, im weiten Abstand mit Maske vor dem Gesicht. Wenn einer spricht, sehen ihn die anderen nicht oder nur von hinten. Diskussionen werden so erschwert. Die beiden Vertreter der AfD, Peter Kremer und Christina Kronawitter, hat man so tatsächlich kaum zu Gesicht bekommen. Sie fielen bisher auch kaum auf: ein Antrag zu Videoüberwachung an der neuen Bahnunterführung, ein Antrag zum 5-G-Netz. Als die Grünen einen Antrag stellten, sich mit Geflüchteten auf Lampedusa zu solidarisieren, stimmten sie dagegen. Sie sind im Stadtrat isoliert. Martin Reichart (Freie Bürgerschaft), ein streitbarer Geist, der seit 18 Jahren dem Stadtrat angehört, sagt: "Die sind demokratisch gewählt, die müssen wir ertragen." Bürgermeister Böck, der die Rechtspopulisten auch im Kreistag erlebt, konzediert den Unterschleißheimer AfDlern immerhin, fleißig zu sein. Oft säßen sie in Gremien als Zuhörer, denen sie gar nicht angehörten. "Die Art, wie sich eingebracht wird, ist besser."

Dass sich Grüne und SPD nach der Wahl zusammentaten, um Krimmer bei der Bestellung durch den Stadtrat als Stellvertreter des Bürgermeisters zu verhindern, dürfte dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Grünen wie der Person Krimmer geschuldet sein, von dem es heißt, er habe die sechs Jahre als Böcks Stellvertreter schon Wahlkampf geführt. Böck wirkt jedenfalls nicht unglücklich über die neue Konstellation und betont den Konsens. Die Corona-Pandemie habe alles dominiert und auch die politische Arbeit behindert, sagt er. "Der Stadtrat hat sich noch nicht so gefunden." Aber die "wichtigsten Themen" habe man abgearbeitet und neue Akzente setzen können.

Wie tragfähig der von Böck im ersten Jahr seiner zweiten Amtszeit beschworene neue Konsens über Parteigrenzen hinweg ist, wurde bei den Haushaltsberatungen auf eine Probe gestellt. Reichart sagt, "es ist das erste Mal, seit ich dabei bin, dass wir wirklich sparen müssen". Der Stadtrat und sogar SPD und CSU fanden zusammen. Ein Knackpunkt war, dass die SPD einwilligte, den 70-Millionen-Neubau der Michael-Ende-Schule zu überdenken. Stefan Krimmer sagt, "das ist schon relativ früh klar gewesen". Die SPD habe lange nicht eingesehen, dass das unbezahlbar sei. "Besser eine späte Einsicht als keine", sagt er.

SPD und CSU und deren führende Köpfe Christoph Böck und Stefan Krimmer haben sich in dem neuen Gefüge eingefunden und kommen offenbar einigermaßen miteinander klar. Reibungen gibt es zwischen CSU und Grünen, denen Krimmer seine Rückstufung zum bloßen Fraktionschef verdankt. Die Grünen seien anstrengend, beklagt er. Sie versuchten Diskussionen zu dominieren und meldeten sich ein ums andere Mal zu Wort, wo doch gerade in der Pandemie angesagt sei, Sitzungen zu straffen. Nicht selten beobachtet Krimmer bei den Grünen das, was man ihm früher vorgeworfen hat: "Wahlkampf" und "Theaterdonner". Ihn ärgerten "ideologisch" getriebene Anträge und aus seiner Sicht wahrlich überflüssige Attacken auf die Staatsregierung.

Der Mann, der Krimmer den Posten des Zweiten Bürgermeisters weggeschnappt hat, ist komplett neu im Stadtrat. Tino Schlagintweit hat sich als Kämpfer für einen Moos-Haide-Park einen Namen gemacht. Jetzt hört er sich in der Telefon-Sprechstunde als Böcks Stellvertreter die Sorgen der Bürger an und bereitet sich auf die ersten Trauungen vor, bei denen er die richtigen Worte zu finden hat. Sein neues Amt sei "sehr vielfältig", sagt er, und "macht mächtig viel Aufwand". Oft sitze man "zwischen den Stühlen", weil Bürger hohe Erwartungen hätten, aber man auch die Kapazitäten der Verwaltung im Blick haben müsse. Tatsächlich habe weder ein Zweiter noch ein Erster Bürgermeister richtig was zu entscheiden. "Der Stadtrat hat das Gewicht", sagt Schlagintweit.

Und von dem bekommt Bürgermeister Böck auch weiterhin Druck. Sei es von den Grünen, die viele Anträge stellen, von Krimmer oder Reichart, der sich mehr Wohnungsbau wünscht und dem Bürgermeister vorwirft, bei der Stadtmitte-Entwicklung am Rathausplatz sechs Jahre verschlafen zu haben. Christoph Böck sieht das freilich anders. Er will mit diesem Stadtrat, mit den Grünen an der Seite und mit den anderen im Konsens viel bewegen. Gewerbe, Wohnungsbau, Schulen und - ja - die identitätsstiftende Stadtmitte will er voranbringen. Die soll bis Ende der Amtsperiode im Jahr 2026 Wirklichkeit werden. "Das ist definitiv das Ziel."

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SZ vom 14.05.2021
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