Kommunalpolitik:"Ich kannte mich in Südosteuropa besser aus als in der Region"

Lesezeit: 4 min

Eberhard Reichert hat Gräfelfing 30 Jahre lang geprägt. Mit 80 Jahren blickt er zurück auf seine überraschende Wahl zum Bürgermeister im Jahr 1972, den Kampf für den Erhalt des Gartenstadt-Charakters und den hohen Baudruck, der auch heute noch ein großes Problem in der Würmtalgemeinde ist.

Interview von Annette Jäger, Gräfelfing

Der Schrecken soll ihm angeblich im Gesicht gestanden haben, als er 1972 zum Bürgermeister von Gräfelfing gewählt wurde. Damals war Eberhard Reichert 30 Jahre alt und gewann die Wahl völlig überraschend. Er blieb 30 Jahre lang im Amt, wurde leidenschaftlicher Kommunalpolitiker und war in zahlreichen Gremien vertreten, unter anderem war er Präsidiumsmitglied des Deutschen Städtetags, Vorsitzender des Planungsverbands Äußerer Wirtschaftsraum München und Kreisrat. Im Jahr 2002 trat er nicht mehr zur Wahl an. Reichert ist Altbürgermeister, Träger des Bundesverdienstkreuzes und Ehrenbürger von Gräfelfing. Anlässlich seines 80. Geburtstags am 2. Februar blickt er auf Gräfelfinger Themen, die heute so aktuell sind wie damals.

SZ: Herr Reichert, außer bei Ihrer ersten Wahl mussten Sie nie wieder in eine Stichwahl und wussten in 30 Jahren eine breite Mehrheit hinter sich. Das Amt des Bürgermeisters schien wie maßgeschneidert für Sie zu sein. Warum waren Sie in der Wahlnacht erschrocken?

Reichert: Das hat der damalige Planegger SPD-Bürgermeister Richard Naumann gesagt: Er habe noch nie jemanden so erschreckt gesehen bei einer Wahl. Ich war tatsächlich völlig überrascht, weil ich mich chancenlos wähnte. Ich war frischpromivierter Jurist und Geschäftsführer der Südosteuropa-Gesellschaft, ein halb-diplomatischer Job, der sehr spannend war. Ich wurde überredet, für die damals neu gegründete Interessengemeinschaft Gartenstadt Gräfelfing (IGG) als Bürgermeister zu kandidieren. Aus Spaß wurde ernst. Ich kannte mich in Südosteuropa besser aus als in der Region und der Kommunalverwaltung.

Sie haben im Laufe der Jahre Geschmack an dem Beruf gefunden. Was ist das Reizvolle am Bürgermeister-Job?

Die Vielseitigkeit und Gestaltungsfähigkeit sind das Spannende. Man ist ständig gefordert, auf Stimmungen, Nöte, Ereignisse zu reagieren. Ich bin eher der Problemlöser. Und Probleme zu lösen ist die Aufgabe eines Bürgermeisters.

Die IGG wurde als unabhängiges Bürgerforum 1970 gegründet und hat sich die Bewahrung der Gartenstadt auf die Fahne geschrieben. Das ist bis heute der Auftrag geblieben. Inwiefern war die Gartenstadt damals in Gefahr?

Der Bau der Autobahn A 96 und der Plan, zwei Hochhäuser an der Würm zu bauen mit jeweils 14 und 17 Stockwerken, neben dem heutigen Pflegeheim St. Gisela, waren der Anlass, die IGG zu gründen. Die Lebensqualität in der Gartenstadt schien in Gefahr. Der Autobahnbau ließ sich nicht verhindern, aber die Hochhäuser waren ein heißdiskutiertes Thema im Gemeinderat, die Stimmung war aufgekocht. Die IGG und die CSU waren gegen den Bau, der Bürgerverein Gräfelfing-Lochham (BVGL) mit seiner Mehrheit dafür. Nach der Wahl konnte der Bau mit den neuen Mehrheiten im Gemeinderat verhindert werden. Dieses Monstervorhaben war natürlich Ausdruck des enormen Baudrucks in der damaligen Zeit.

Das ist heute nicht anders. Den Baudruck gibt es in Gräfelfing auch heute noch.

Genau, eine Attraktivität Gräfelfings ist die Nähe zu München. Das bringt aber auch die Gefahr mit sich, dass Baudruck, aber auch Verkehr und Lärm auf die Gemeinde überschwappen. Dem müssen wir mit unseren Mitteln begegnen.

In Ihrer Amtszeit wurde als Steuerungsinstrument das sehr spezielle Gräfelfinger Baurecht verankert, das in Deutschland geradezu einmalig ist und bis heute gilt. Im Kern besagt es, dass das Baurecht ab einer bestimmten Grundstücksgröße eingeschränkt ist. Was wurde damit erreicht?

Gräfelfing ist ja eher zufällig gewachsen. Es gab damals kein richtiges Ortszentrum, keine Struktur. Das Baurecht war das Instrument, den Baudruck zu kanalisieren und eine Struktur zu schaffen. Es hat verhindert, dass Gräfelfing komplett zugepflastert wurde, dass die ganzen großen Grundstücke geteilt und zugebaut wurden. Baurecht ist immer umkämpft. Der Teufel kommt da in vielerlei Gestalt. Mal ist es Wohnungsnot, dann Arbeitslosigkeit - es gibt in allen Generationen immer Gründe, das Baurecht auszuhöhlen. Damit das nicht geschieht, hat der Gemeinderat eine glatte, nachvollziehbare Struktur geschaffen, die die Gartenstadt definiert und bewahrt.

"Wäre das Baurecht noch höher, wären die Preise noch höher."

Die Grundstückspreise sind explodiert in Gräfelfing. Wo entwickelt sich die Gemeinde hin, wenn sich nur noch Reiche hier Wohnraum leisten können?

In Gräfelfing waren die Grundstückspreise schon immer hochpreisig. Als ich 1972 Bürgermeister wurde, kostete der Quadratmeter 350 Mark, das war horrend. Wäre das Baurecht noch höher, wären die Preise noch höher. Wir haben aber nicht nur Reiche hier. Die Gemeindebau, das kommunale Wohnungsunternehmen in Gräfelfing, ( Reichert war viele Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender, Anm. d. Red.) hat ein bezahlbares Wohnraumangebot geschaffen. Wir haben Orte in Gräfelfing, die durchaus verdichtet sind, wo wir Geschosswohnungsbau haben. Das war damals eine Möglichkeit, ein Gegengewicht zu einer Monokultur von Einfamilienhäusern zu setzen. Dieses Gegengewicht zu schaffen, ist heute noch genauso wichtig.

Wo haben Sie Gräfelfing als Bürgermeister am meisten geprägt?

Gräfelfing hatte damals kein richtiges Ortszentrum. Mit dem Bürgerhaus und dem Bahnhofsplatz davor haben wir eine nachträgliche Mitte geschaffen. Auch das Baurecht als Gestaltungsinstrument prägt Gräfelfing sicher bis heute. Und natürlich gehören die Würmufer dazu. Über die gesamte Länge meiner Amtszeit hat die Gemeinde immer wieder Grundstücke an der Würm erworben, um den Zugang zum Fluss frei zu halten. Rund 90 Prozent der Grundstücke zwischen den Ortsgrenzen Planegg und Pasing gehören der Gemeinde oder sind in öffentlicher Hand. Das ist das Schöne an einer langen Amtszeit: Man kann an einem Thema dranbleiben und gestalten.

Wenn Sie in die Zukunft Gräfelfings blicken, was sehen Sie dann?

Verkehr, Lärm, Bauen und Wohnen werden auch in Zukunft die Themen sein, mit denen sich Gräfelfing auseinandersetzen muss. Mein Lieblingsbild ist das einer Gemeinde im Gleichgewicht, in der die Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen ausgelotet sind. Dieses Gleichgewicht ist natürlich ununterbrochen in Gefahr. Eine Gemeinde ist lebendig, so lange die Gewichte spürbar sind. Dann bewegt sich etwas. Es ist die Aufgabe eines Gemeinderats, hier zu reagieren, Lösungen zu schaffen. Ich denke, das bleibt auch in Zukunft die Aufgabe.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: