Fall Brunner: Mord oder Totschlag?:Zu Tode erschreckt

Prozessbeteiligte wussten es längst und haben doch geschwiegen: Dominik Brunner starb, weil sein Herz beim Angriff zweier Jugendlicher versagte. Die Verteidiger wittern ihre Chance.

Christian Rost

Im Nachhinein wird jetzt vieles klarer an diesem Prozess, und vielleicht haben die Unstimmigkeiten der ersten Tage auch damit zu tun, dass in der Sache Dominik Brunner der Tod eines Helden verhandelt wird. Helden dürfen keine Schwächen haben, so wird das allgemein gesehen, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu verändern, möglicherweise weniger heldenhaft erscheinen zu lassen, ist eine heikle Angelegenheit. Dominik Brunner, der am 12. September 2009 starb, weil er vier Schülern helfen wollte, war herzkrank. Das ist am Samstag bekannt geworden. Für die Prozessbeteiligten war es keine Neuigkeit, und das macht manches an ihrem Verhalten plausibler.

Brunner starb an Herzstillstand - Anklage bleibt bei Mord

Brunner starb an Herzstillstand, doch die Anklage bleibt bei Mord. Rund zehn Monate nach dem Tod Dominik Brunners sind am Samstag erstmals Details über die Todesursache des Managers bekanntgeworden. Demnach starb Brunner nicht direkt an den Verletzungen durch die massiven Schläge und Tritte zweier Jugendlicher, sondern an Herzstillstand.

(Foto: dpa)

Das gilt für die vier Verteidiger zum Beispiel, die es hinnehmen, dass die wegen Mordes an Dominik Brunner angeklagten Markus Sch. und Sebastian L. am Morgen des ersten Verhandlungstages eine quälend lange Viertelstunde den Pressefotografen im Sitzungssaal 101 zur Verfügung stehen müssen. Die Anwälte der zur Tatzeit 17 und 18 Jahre alten Angeklagten hätten bei der Jugendkammer des Münchner Landgerichts den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen können. Sie tun es aber nicht.

Es ist nun auch nachvollziehbar, weshalb die Staatsanwaltschaft ihre Anklage in einem entscheidenden Punkt, der Todesursache Brunners, so vage gelassen hat: "an den Folgen des Angriffs verstorben". Oder dass sich ein Beamter der Mordkommission auffallend ausweichend äußert zum Gesundheitszustand des Opfers, obwohl er dessen Krankenakte genau kennt. Und es gibt nun auch eine Erklärung dafür, dass Dominik Brunner nach der brutalen Attacke am S-Bahnhof Solln noch einmal aufstehen kann, bevor er bewusstlos zusammensackt und binnen Minuten blau anläuft im Gesicht. Man versteht das jetzt besser, seit klar ist, dass der 50-Jährige nicht unmittelbar den Verletzungen durch Schläge und Tritte zum Opfer fiel. Er starb an Herzversagen.

Brunner hat den Stress nicht ausgehalten

Dennoch: Die Münchner Oberstaatsanwältin Barbara Stockinger verweist weiterhin auf die Kausalität zwischen dem Gewaltexzess und dem Tod des Mannes, der als Held der Zivilcourage schon Geschichte geschrieben hat in Deutschland. Dass Dominik Brunner zwar 22 schwere Verletzungen durch die Attacke der Jugendlichen davontrug, am Ende aber sein krankhaft vergrößertes Herz nach einem Kammerflimmern ausgesetzt hat, diese Enthüllung kommt den Anwälten natürlich gelegen. Sie behaupten nun, Brunners Organismus habe dem Stress der gewaltsamen Auseinandersetzung einfach nicht standgehalten.

Die Anwälte hätten aber auch nichts dagegen gehabt, wenn diese Bombe erst zu einem späteren Zeitpunkt im Prozess geplatzt wäre. Denn Maximilian Pauls und Hermann Sättler, die Markus Sch. vertreten, sowie Jochen Ringler und Roland Autenrieth, die Anwälte von Sebastian L., waren in den ersten Tagen ganz damit beschäftigt, das übermächtige Bild des Helden Brunner zu hinterfragen. Sie wollten ihre Mandanten nach und nach weniger monsterhaft erscheinen lassen, immer das Ziel vor Augen, vom Mordvorwurf wegzukommen, um am Ende eine Verurteilung wegen Totschlags oder wegen Körperverletzung mit Todesfolge herauszuholen. Wenn sich die Verteidigung nun darüber empört, dass die Staatsanwaltschaft die wahre Todesursache nicht schon früher bekannt gegeben hat, zeigt dies nur, wie angespannt die Stimmung in dieser Phase des Prozesses ist. Zum Kalkül der Verteidigung passt auch Sättlers Plädoyer zum Prozessauftakt.

Er beklagte die öffentliche Vorverurteilung und mahnte pastoral ein faires Verfahren an. Die Staatsanwaltschaft hat unterdessen wohl gehofft, dass die Nachricht vom Herztod nach 53 Zeugenvernehmungen zu spät kommen würde, um nach all den Schilderungen brutaler Details den Mordvorwurf noch ernsthaft gefährden zu können.

"Bestraft sie hart!", das forderte vorige Woche noch der Boulevard. Nun ist das nicht mehr so einfach. Im Prozess ist nämlich auch klar geworden, dass der Manager den ersten Schlag gegen die Jugendlichen geführt hat. Er traf Sch. mit der Faust ins Gesicht. Eine 56-jährige Verwaltungsjuristin sagte im Zeugenstand, sie habe Brunner sogar zweimal zuschlagen sehen: "Kick und Schlag", wie bei einem Kampfsportler. Für die Staatsanwaltschaft bleibt es Notwehr, aber die Zweifel an der Angriffslust der Jugendlichen am Nachmittag des 12. September am Bahnsteig in Solln wachsen.

Auf brutale Weise misshandelt

Dennoch haben die Angeklagten Brunner auf unbegreiflich brutale Weise misshandelt. Markus Sch. hat auch dann noch wie besinnungslos auf den Kopf des Wehrlosen eingetreten, als dieser unter einem Bahnsteiggeländer eingeklemmt lag und L. längst von ihm abgelassen hatte. Weil L. bei der Attacke eher passiv war, was seinem lethargischen Naturell entspricht, wird er schon nicht mehr in einer Täterkategorie mit seinem Kompagnon gesehen. Die Anwälte von L. bekräftigten schon nach den ersten Prozesstagen, die Mordanklage gegen ihren Mandanten sei "nicht mehr länger zu halten".

Der zweite Angeklagte ist da schon viel mehr der Schlägertyp, der aus Wut und Rache, wie es ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft, auf einen Menschen losgeht. Markus Sch. war zur Tatzeit in offener Bewährung, als er durch Brunners Erstschlag blutend und mit Tränen im Gesicht zum Angriff überging. Dass er sich eine Taktik zurechtlegte, sich mit einem Schlüssel bewaffnete und sich bei seinen Tritten kaum stoppen ließ von L., spricht alles gegen ihn. Die Nachricht vom Herztod entlastet ihn nach Ansicht der Strafverteidiger nun aber entscheidend: "Die Behauptung, Dominik Brunner sei totgetreten worden, kann nicht mehr länger aufrechterhalten werden."

Ein Beamter der Mordkommission hätte womöglich schon am zweiten Prozesstag berichten können, dass Brunners Herz die Attacke nicht verkraftet hat. Er beschreibt den Manager jedoch als "körperlich fit", obwohl er dessen Krankenakte bei der Betriebskrankenkasse BKK eingesehen hat. Ein Herzleiden erwähnt der Kriminaler auch nicht, als zur Sprache kommt, dass der Wirkstoff Lidocain im Körper des Getöteten gefunden wurde. Das Mittel, das Herzrhythmusstörungen unterdrückt, sei auch als Gleitmittel üblich,

um einen Schlauch zur künstlichen Beatmung in den Rachen einführen zu können, sagt der Polizist.

Blau im Gesicht

Rechtsmediziner Wolfgang Keil hört das alles - und kann sich in seiner Diagnose vom Herzkammerflimmern bestätigt sehen. Und wenn Zeugen davon sprechen, dass das Opfer ganz blau geworden ist im Gesicht, ist dies ein Anzeichen für Herzversagen. Es wird kein Blut mehr durch den Körper gepumpt und dringt ins Gewebe ein. Keil darf sich aber erst äußern, wenn ihm das Gericht in den letzten Tagen des bis zum 29. Juli laufenden Verfahrens das Wort erteilen wird.

Für den Ausgang des Prozesses spielt es keine Rolle, wann die Todesursache Brunners zur Sprache kommt. In der Öffentlichkeit aber könnte der Eindruck entstehen, die Prozessbeteiligten hätten vor 150 Zuhörern tagelang Theater gespielt, um nicht mit der Wahrheit schockieren zu müssen: dass der Held Brunner, der posthum mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, eine körperliche Schwäche hatte und seine physischen Möglichkeiten vielleicht überschätzte, als er Zivilcourage zeigte. Brunner hat seinen Einsatz für andere mit dem Leben bezahlt. Er hat gehandelt, wo andere wegschauen.

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