"Crossing Life Lines":Grenzenloser Flow

Mulo Francel

Die Idee zu dem Album "Crossing Life Lines" ist Mulo Francel, Saxofonist und Komponist aus Baierbrunn, während einer Konzerttournee durch Tschechien und Polen gekommen. Die Stücke sind jazzig, von Klassik und Weltmusik inspiriert.

(Foto: Annette Hempfling)

Saxofonist Mulo Francelversammelt in seinem neuen Albumexzellente Musikermit biografischen Wurzeln inMittel- und Osteuropa

Von Udo Watter, Baierbrunn/München

Für einen Protagonisten der Weltmusik wie Mulo Francel ist die Grenzüberschreitung eine Selbstverständlichkeit. Für einen Fluss auch. Manchmal kann man einen Fluss auch musikalisch umbetten. Smetanas Moldau etwa fließt in Francels neuem Album "Crossing Life Lines" weniger sinfonisch-romantisch als vielmehr jazzig-lässig durchs Land, kleine rhythmische Vertracktheiten und groovige Improvisationen - quasi verspielt mäandernde Nebenflüsse - inklusive. "Valse du Bohémien" hat der gebürtige Münchner sein Arrangement der (mit Dvořáks 9. Sinfonie) wohl berühmtesten tschechischen Tondichtung genannt, die als Teil des Zyklus "Mein Vaterland" seit ihrer Uraufführung 1875 im Übrigen immer auch starke patriotische Anwandlungen aufschäumen ließ.

Davon ist Francel, 1967 geboren und im Chiemgau aufgewachsen, sicher nicht befeuert. Die Idee zum Album, das es auch als Vinyl-LP gibt, ist ihm auf einer Tour mit seiner Band Quadro Nuevo durch Tschechien und Polen gekommen. Ein Gespräch nach dem letzten Konzert in Gliwice (Gleiwitz) in Oberschlesien, Reflexionen über das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren und die jüngere Geschichte Mittel- und Osteuropas gebaren in einer schlaflosen Nacht entsprechende Pläne. "Es hat mich emotionalisiert und mir keine Ruhe gelassen" erzählt er, "die Frage: Wie kommen wir drüber hinweg, über die alte und die jüngere Geschichte?" Francel hat väterlicherseits böhmische Wurzeln, aber der Saxofonist und Komponist, der mit seiner Band Quadro Nuevo unter anderem zweimal den Echo Jazz als "Bester Live-Act" gewonnen hat, und ein musikalischer Grenzüberschreiter par excellence ist, hatte sich in seiner Karriere musikalisch bisher nicht groß mit den östlichen Nachbarn beschäftigt. Jazz, Tango, Chanson, und vor allem die weite Spielwiese der Weltmusik mit ihren afrikanischen, türkischen oder persischen Traditionen, das war der Kosmos des Oberbayern, der seit zwölf Jahren in Baierbrunn lebt.

Nun, das hat sich jetzt geändert, und entstanden ist ein sehr hörenswertes Album, das an diesem Freitag, 28. August, herauskommt (GLM Music GmbH). "Ich suchte hervorragende Musiker, die mein Anliegen verstehen. Die aufgrund ihrer Biografie einen Sinn für das Überwinden von Grenzen und das Bauen von versöhnenden Brücken zwischen den Völkern haben", erklärt Francel. Das ist ihm gelungen. Spannende Musiker, mit denen er zum Teil früher schon zusammengearbeitet hatte, haben zu diesem Album beigetragen: Unter anderem die in Nürnberg lebende polnische Vibrafonistin Izabella Effenberg und der Wiener Gitarrist Diknu Schneeberger, der jenische und Sinti-Wurzeln hat. David Gazarov, in München lebender Jazzpianist armenischer Herkunft, der tschechische Cellist Jiří Bárta oder der deutsche Jazz-Bassist Sven Faller, dessen Stief-Großvater aus jüdisch-schlesischer Familie stammt. Auch der in Oberhaching aufgewachsene Pianist Bernd Lhotzky, Sohn deutsch-französischer Eltern und Meister des Harlem Stride, wirkte mit und steuerte das großartige, von einem Chopin-Prélude und Ragtime inspirierte Finalstück des Albums bei. "Jeder Musiker durfte sich einbringen und frei entfalten" sagt Francel. Es war interessant, welchen Ansatz jeder einzelne hat."

Es sind Lieder, die von den Biografien und Wurzeln der Beteiligten inspiriert sind, teils Eigenkompositionen, teils Arrangements. Von wilder Spielfreude geprägt ist etwa "Schaschlik", das auf melodischen und rhythmischen Einflüssen aus der armenisch-kaukasischen Region basiert. Liebeslieder, die einst im ganzen k.u.k.-Reich von Bratislava über Budapest bis Brünn gesungen wurden. Ein Werk des jüdischen Prager Komponisten Hans Winterberg ("Ein Sommertag"), der im Lauf seines Lebens drei Staatsangehörigkeiten hatte (österreichisch, tschechoslowakisch und deutsch) und damit die Frage nach der einzig wahren Identität quasi jenseits traditioneller Denkschablonen entwaffnet.

Francel, der nicht nur Weltmusiker, sonder auch Weltenbummler ist, wollte genau das - die versierte Kombination und Verschmelzung verschiedener Einflüsse: ob polnisch, tschechisch, ungarisch-österreichisch oder deutsch-böhmisch, ob christlich oder jüdisch (ein Stück heißt "The Rabbi from Namysłow" von Sven Faller). Eine andere Komposition Fallers ist der Naab gewidmet, deren Quelle direkt an der bayerisch-tschechischen Grenze ist - wie übrigens auch eine der Moldauquellen. Es ist eine abwechslungsreiche und virtuose musikalische Hommage an 75 Jahre Frieden in einer Weltgegend, die viel Leid erlebt hat.

Francel spielt in jedem Stück mit und hat auch etliche Eigenkompositionen beigetragen. Besonders schön ist "Ada's Song". Als Bub liebte es Francel, den Geschichten seiner Großmutter Ada zu lauschen. "Ich habe sie regelrecht ausgepresst". Bilder aus einer anderen, vergangenen Welt erstanden vor seinem inneren Auge, wenn Ada Hrubesch, die im böhmischen Teplice (Teplitz) in einer tschechischen Familie aufwuchs und in den 1930er Jahren eine der wenigen Frauen war, die in Prag Medizin studierten, von damals erzählte. Das Studium brach sie schließlich ab, wegen der Liebe, sie verguckte sich in Francels Großvater, der aus deutsch-böhmischer Familie stammte. Die Komposition ist eine federnde Ode an die Oma, bei der sich, flankiert vom lässig schreitenden Bass, Tenorsaxofon, Vibrafon, Gitarren und Piano versiert die klanglichen Bälle zuspielen. Musik und besonders der Jazz ist ja immer auch virtuose Begegnung auf einem Spielfeld, die Francel, der elegante Melodiker, liebt. Dass ihm das Magazin Kulturnews mal den "sinnlichsten Saxofonsound Europas" zuschrieb, kommentiert er eher uneitel: "Das Wichtigste ist Üben. Je mehr du übst, desto besser bist du."

Zu seinen Vorbildern zählen der amerikanische Jazzsaxofonist Stan Getz, aber auch der türkische Klarinettist Mustafa Kandirali. Francels Einstieg in die Musik war die Jazz-Plattensammlung seines früh verstorbenen Vaters, er wurde zum besessen übenden Autodidakt. Manchmal läuft der Bayer Gefahr, zu verkopft an die Welt heranzugehen, dann hilft ihm sein langjähriger Freund, der Bassist D.D Lowka, der beim Album mitwirkte, wieder auf die spielerische Ebene zurückzufinden.

In den Flow kommen, das war auch bei der Aufnahme wichtig - sie wurde in zwei Phasen realisiert, noch vor und schon während Corona. Wegen der Pandemie gibt er heuer auch weniger Konzerte, in den Urlaub fährt Naturmensch Francel, der mit Familie in Baierbrunn lebt - seine Frau ist die Autorin Julie Fellmann - heuer ebenfalls nicht. "Aber der Münchner Süden ist auch schön", sagt er. Am Georgenstein gibt es eine Stelle in der Isar, wo er, der musikalische Grenzüberschreiter, stromaufwärts gewandt gerne auf der Stelle schwimmt.

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