Impfmüdigkeit:Auf die Spritze, fertig - aus?

Impfmüdigkeit: Es droht das Szenario, dass der Impfstoff bald nicht mehr hauptsächlich in den Armen landet sondern vielmehr im Abfall.

Es droht das Szenario, dass der Impfstoff bald nicht mehr hauptsächlich in den Armen landet sondern vielmehr im Abfall.

(Foto: Claus Schunk)

In den Arztpraxen werden die Wartelisten kürzer und in den vier Impfzentren warten mittlerweile sogar mehr Impfdosen als Menschen. Mit Sonderaktionen soll der Anteil der immunisierten Bevölkerung weiter erhöht werden. Dennoch dürfte es schon bald zu viel Vakzin geben.

Von Sebastian Franz und Tatjana Tiefenthal

Impfmüdigkeit legt sich angeblich über das Land. Zuerst fehlte der Impfstoff und nun sollen die Impfwilligen fehlen, ist überall zu hören. Doch stimmt das? Wie sieht es in den vier Impfzentren und den Arztpraxen etwa im Landkreis München tatsächlich aus? Die SZ hat sich diese Woche umgehört.

Stand Freitag waren im Landkreis 176 070 Menschen mindestens einmal geimpft, 131 064 haben sogar den vollständigen Schutz. Das entspricht 42,6 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahre. Noch bis kommenden Mittwoch läuft an den vier Impfzentren im Landkreis eine Sonderimpfaktion, um diese Zahlen weiter zu steigern. Dabei können sich Menschen über 18 Jahre mit dem Vakzin von Astra Zeneca erstimpfen lassen - ohne Priorisierung. Anmelden kann man sich telefonisch bei den Impfzentren. Die Zweitimpfung ist auch mit einem mRNA-Impfstoff von Biontech oder Moderna möglich. Insgesamt 18 000 Impfdosen wurden allein diese Woche in den Landkreis geliefert.

Diese Woche sei die Nachfrage nach den Aktionsterminen überschaubar gewesen, sagt eine Sprecherin des Landratsamts. Die Kapazität der Impfzentren werde aktuell nicht ausgereizt. Deshalb können seit Donnerstag alle Impfberechtigten kurzfristig Termine vereinbaren - direkt bei den Impfzentren, unabhängig von der regulären Terminvergabe. Sogar Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren können dort von sofort an geimpft werden. Am Freitagmittag bildeten sich daraufhin Schlangen vor den Impfzentren.

Moritz Korsch vom Bayerischen Roten Kreuz (BRK) verantwortet die Terminvergabe in den Impfzentren Unterschleißheim und Planegg. "Dass wir eine so hohe Anzahl Impfdosen geliefert kriegen, gleichzeitig die Nachfrage nach Terminen sinkt, ist neu", sagt er. Viele Menschen gingen für die Zweitimpfung zu ihren Hausärzten. "In Planegg gibt es kaum noch jemanden, der sich bei uns impfen lassen will." Das habe auch damit zu tun, wer in den Gemeinden lebe. Für wen es zum Beispiel normal sei, beim Hausarzt Druck auszuüben, um bevorzugt zu werden, der komme beim Impfzentrum nicht weit damit. "Wir haben keinen Kundenstamm, den wir verlieren könnten", sagt Korsch.

Beim Impfzentrum Haar gibt es derzeit "gar keine Registrierungen", berichtet Alexander Brandstaetter vom Malteser Hilfsdienst. Es seien Impftermine frei, die keiner wolle. Als Gründe nennt die Bequemlichkeit der Leute, die Urlaubszeit und die gelockerten Regelungen. Viele sähen keine Vorteile mehr in einer Impfung, schließlich müsse man beinahe nirgends mehr einen negativen Test oder Impfnachweis vorzeigen. Für einige sei ein Impftermin derzeit schlicht unpassend, weil der Zweittermin in die Sommerurlaubszeit falle. Ein "Skandal" sei das, findet Brandstaetter. Ein Skandal, der sich im Herbst rächen werde.

Impfmüdigkeit: Es droht das Szenario, dass der Impfstoff bald nicht mehr hauptsächlich in den Armen landet sondern vielmehr im Abfall.

Es droht das Szenario, dass der Impfstoff bald nicht mehr hauptsächlich in den Armen landet sondern vielmehr im Abfall.

(Foto: Claus Schunk)

In Oberhaching stagnieren die Registrierungen ebenfalls. Auch werden nicht alle Termine wahrgenommen. Gerhard Bieber von der Johanniter-Unfall-Hilfe sieht das positiv: "Wer will, kann sich innerhalb weniger Tage impfen lassen." Es gebe derzeit mehr Dosen als gebuchte Termine. Noch bleibe man allerdings auf keinem Impfstoff sitzen. "Noch", wiederholt Bieber. Er vermutet ebenfalls, dass die Urlaubsplanung die Impfwilligkeit der Menschen beeinflusst. Viele seiner Kollegen seien damit beschäftigt, Angemeldeten hinterherzutelefonieren. Nur weil jemand einen Termin hat, könne man nicht mehr davon ausgehen, dass er diesen auch wahrnimmt.

Bei den impfenden Hausärzten im Landkreis ist die Nachfrage nach Impfungen dagegen derzeit noch vorhanden. Allerdings werden die Wartelisten kürzer. "Es ist kein so starker Andrang mehr wie zu Beginn. Dadurch bekommt man schneller einen Termin", berichtet Sovrane Murseli. Sie arbeitet in der Praxis von Andrea Bräuer in Haar. Gefragt seien die Termine aber nach wie vor. Ähnlich ist die Situation bei Oliver Abbushi, der eine Hausarztpraxis in Deisenhofen betreibt. "Bei uns ist die Nachfrage weiterhin hoch", sagt der Arzt. "Wir sind jetzt aber so weit, dass es ausreichend Impfstoff gibt." Von zu viel Vakzin kann nach Aussagen Abbushis nicht Rede sein, es gebe lediglich endlich die exakt benötigte Menge. Länger als ein bis zwei Wochen müsse niemand auf einen Termin warten.

In der Gemeinschaftspraxis von Friedrich Kiener in Unterschleißheim erfolgen pro Woche 150 bis 160 Impfungen. Damit sind derzeit alle Termine vergeben. Eine Warteliste gibt es nicht mehr. "Auf einen Termin muss man bei uns zwei Tage warten", sagt der Hausarzt. "Das liegt jedoch nicht am Impfstoff, sondern hat organisatorische Gründe."

Kiener glaubt, dass der Nachfragerückgang durch die niedrige Inzidenz zustande kommt. "Die Menschen, die sich aus Angst impfen lassen wollten, sind mittlerweile vollständig geimpft." Weil es zudem keine Testpflicht mehr gibt, befürchtet Kiener, dass die Nachfrage weiter zurückgeht. "Wenn die Zeiten gut sind, vergisst man schnell, was vorher war", sagt der Mediziner. Er ist überzeugt, dass die Impfbereitschaft wieder größer wird, wenn im Herbst die Inzidenz ansteigt.

Die Nachfrage ist auch vom Vakzin abhängig. "Biontech loszuwerden, haben wir keinerlei Probleme. Alle wollen einen mRNA-Impfstoff haben", berichtet die Haarer Arzthelferin Murseli. Johnson & Johnson sei ebenfalls sehr beliebt, da nur eine Impfung nötig ist. Astra Zeneca hingegen wird von vielen Hausärzten gar nicht mehr angeboten. Auch der Oberhachinger Abbushi bestellt das Vakzin nicht mehr: "Astra Zeneca möchte keiner mehr haben. Die Termine bleiben ungenutzt."

18 000 Impfdosen

sind allein in dieser Woche in den Landkreis geliefert worden. Um sie in die Arme zu kriegen, läuft eine Sonderaktion an den vier Impfzentren in Haar, Oberhaching, Planegg und Unterschleißheim. Termine sind dort kurzfristig direkt zu bekommen, ohne vorherige Anmeldung über das Impfportal Bayimco. Mitzubringen sind lediglich der gelbe Impfpass sowie ein gültiger Ausweis. Vor allem nachmittags sind laut Landratsamt Termine ohne längere Wartezeiten und sogar spontan zu bekommen.

Obwohl sich Nachfrage und Impfstoffmenge momentan noch die Waage halten, bereiten sich die Hausärzte darauf vor, dass in den nächsten Wochen weniger Termine gebucht werden. "Wenn es so weit ist, wollen wir aktiv akquirieren", sagt Abbushi, der auch Sprecher der bayerischen Hausärzte ist. "Wir überlegen, an Schulen zu gehen und dort ein gezieltes Impfangebot zu machen." Sein Unterschleißheimer Kollege Kiener schlägt vor, die Abstände zwischen der Erst- und Zweitimpfung zu verkürzen. Damit könnten Leute erreicht werden, die sich aufgrund ihrer Urlaubspläne momentan nicht impfen lassen. "Wegen des Impfstoffmangels hat man den Abstand auf das Maximum ausgedehnt. Man könnte ihn problemlos auf drei Wochen reduzieren", ist der Arzt überzeugt.

Unabhängig davon, wie sich die Nachfrage entwickelt, wird weder bei den Hausärzten noch in den Impfzentren Impfstoff weggeworfen. Die Hausärzte bestellen die Lieferung wochenweise, um die Menge den Terminen anpassen zu können. "Bis auf den letzten Tropfen wird alles verimpft", erzählt Murseli aus Haar. Lediglich bei kurzfristigen Absagen oder wenn Personen nicht zu ihrem Termin erscheinen, können vereinzelt Impfdosen im Müll landen. So ist eine Ampulle Biontech, die für sechs Impfdosen reicht, aufgetaut nur sechs Stunden haltbar. Nehmen nicht alle ihren Termin wahr, reicht die Zeit meistens nicht, um Ersatz zu finden.

Auch in den Impfzentren hat höchste Priorität, dass aller Impfstoff verwendet wird und nichts wegkommt. Dafür gebe es genug Impfwillige - "noch", sagt BRK-Mann Korsch. Irgendwann werde ein Punkt erreicht sein, an dem es mehr Impfstoff gibt, als verimpft werden kann. Jedoch nicht wegen Impfmüdigkeit, sondern weil die Impfzentren ihren Job erledigt haben werden. "Bevor wir nur eine Dose wegschmeißen", sagt Korsch, "schließen wir das Impfzentrum."

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