Coronavirus im Landkreis:Familien kriegen die Krise

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Nach Wochen im Home-Schooling sind viele Eltern und Kinder mit ihren Nerven am Ende. (Foto: Stephan Rumpf)

Beratungsstellen im Landkreis verzeichnen eine verstärkte Nachfrage nach ihren Angeboten für Eltern, Kinder und Jugendliche, die Fälle von häuslicher Gewalt nehmen zu. Dabei ist es derzeit besonders schwierig, den Betroffenen zu helfen.

Von Julia Fietz, Taufkirchen

Für die meisten Klassenstufen sind die Schulen in Bayern mittlerweile seit gut zwei Monaten geschlossen. Viele Eltern sind im Home-Office oder haben derzeit gar keine Arbeit. Kommen dann noch Sorgen um Gesundheit und Finanzen sowie ein beengter Wohnraum hinzu, liegen die Nerven schnell blank. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die in instabilen Familienverhältnissen leben oder selbst Unterstützung brauchen, bedeutet die Situation eine große Belastung. Die Beratungs- und Hilfsstellen im Landkreis und in München haben sich so gut wie möglich mit den Umständen arrangiert. Sie sind trotz Kontaktbeschränkungen für ihre Klienten da.

"Ich hatte den Eindruck, dass bis Ostern noch alles relativ ruhig war, weil die Lage überschaubar schien", sagt Beatrix Ehler. Sie greift bei der Beratungsstelle der Caritas für Eltern, Jugendliche und Kinder in Taufkirchen Familien mit ganz unterschiedlichen Problemen unter die Arme. Diese reichten "von Einschlafproblemen bei Kleinkindern bis zur Suizidgefahr bei Jugendlichen", sagt Beatrix Ehler. In der Regel kämen die Familien von sich aus auf die Beratungsstelle zu, die einzige Ausnahme seien Gerichtsbeschlüsse, wenn sich die Eltern zum Beispiel während einer Scheidung nicht einigen könnten. Bis zu 400 Familien sind es im Jahr, die bei der Beratungsstelle Hilfe bei der Lösung ihrer Konflikte suchen. Zuletzt war das nur über Telefonate und Konferenzschaltungen möglich. Nun nimmt das Team der Beratungsstelle nach und nach die Beratungsgespräche wieder auf unter Einhaltung des eigenen Schutzkonzepts.

Die Unsicherheit darüber, wie es weitergehen soll, mache den Familien zunehmend zu schaffen, berichtet Beatrix Ehler. In den ersten Wochen hätten sich die meisten in einer Art Schockstarre befunden, hätten erst einmal die Situation einordnen müssen. "Jetzt kommt oft die Wut, weil man es nicht hinbekommt, allem gerecht zu werden." Bis zu 15 Telefongespräche führe sie am Tag, berichtet Ehler. "Ich brülle meine Kinder nur noch an" sei ein Satz, den sie häufig höre. Gerade bei instabilen Familien eskaliert es momentan häufiger. "Probleme, die schon vorhanden waren, verschärfen sich durch die Krise noch mehr", sagt Ehler.

Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt

Überforderung und Frustration führten dazu, dass die Nerven zum Zerreißen gespannt seien. Ehler lässt ihre Gesprächspartner dann erst einmal erzählen und zeigt Verständnis. "Oft nutzt es schon zu sagen: ,Sie machen das gut, Sie sind keine schlechte Mutter, kein schlechter Vater'." Ehler rät zumeist, sich selbst Grenzen zu setzen und Zeit für sich einzuplanen, um durchatmen zu können. In einigen Fällen ist es mit der Beratung allein aber nicht mehr getan, insbesondere dann, wenn es um den Kinderschutz geht. "Wird die Situation in der Familie zu prekär, schalten wir das Jugendamt ein", sagt die Beraterin.

In normalen Zeiten sind es vielfach externe Ansprechpartner wie Lehrer oder Sporttrainer, denen sich Kinder und Jugendliche zum ersten Mal öffnen, wenn die Situation zu Hause untragbar wird. "Aktuell sind sie gezwungen, sich ausschließlich auf ihr Familiensystem zu beziehen oder aber aktiv Hilfe zu suchen und anzunehmen", sagt Sandra Höhne, Leiterin des Fachbereichs "Allgemeine Jugend- und Familienhilfe" des Landratsamts München. Die freien Träger und präventive Angebote im Haus hätten viele Angebote geschaffen, die die Kinder und Jugendlichen direkt und unkompliziert erreichten.

Allgemein steigen bei Sandra Höhnes Fachbereich gerade die Anfragen an und das "sowohl von Familien, die bereits mit uns in Kontakt stehen, als auch von Familien oder dritten Personen wie besorgten Nachbarn, bei denen das bisher nicht der Fall war." Alle Mitarbeiter ständen im intensiven Kontakt zu den Familien und Kooperationspartnern, so Höhne. Um die erhöhte Nachfrage aufzufangen, wurde die telefonische Erreichbarkeit der Allgemeinen Jugend- und Familienhilfe deutlich ausgeweitet. Wie hoch der Belastungspegel bei einigen mittlerweile ist, macht sich noch auf andere Weise bemerkbar. Fälle von häuslicher Gewalt nehmen leicht zu. "Es melden sich viele Frauen, die sich früher schon einmal an uns gewandt haben", sagt Tanja Böhm, Leiterin der Interventionsstelle für den Landkreis München. Für die betroffene Frauen seien die Konsequenzen der coronabedingten Einschränkungen besonders bedrohlich.

Fluchtmöglichkeiten fallen weg

"Fluchtmöglichkeiten wie eine Übernachtung bei der besten Freundin fallen weg", berichtet auch Jürgen Wolf. Der Psychologe und psychologische Psychotherapeut hat 1995 zusammen mit der Geschäftsleitung des Kinderschutzbunds den Münchner Standort der "Nummer gegen Kummer" gegründet. Deutschlandweit gingen im vergangenen Jahr 471 669 Anrufe ein, aus denen sich insgesamt 99 229 Beratungen entwickelten. Bereits als Student hat Wolf beim Kinder- und Jugendtelefon ausgeholfen, damals noch in Freiburg. Mittlerweile schaut der heute 54-Jährige auf 30 Jahre Erfahrung zurück und leitet die Ausbildung der neuen Ehrenamtlichen.

Eine dieser Ehrenamtlichen war vor zwei Jahren Studentin Lena aus dem Landkreis München. Sie ist Anfang 20 und fährt ein- bis zweimal im Monat in die Stadt, um dort drei Stunden lang anonyme Anrufe aus ganz Deutschland entgegen zu nehmen. "Meistens klingelt das Telefon dauerhaft", erzählt Lena. Ihre Gesprächspartner sind in der Regel zwischen acht und 23 Jahre alt. Die Probleme reichen von Langeweile und Einsamkeit über Mobbing bis hin zu Missbrauchsfällen und Suizidgedanken. Viel Geduld und Verständnis seien wichtig, betont Lena. "Manchmal sagt die andere Person auch erst einmal gar nichts oder man hört nur ein leises Schluchzen."

Die Corona-Krise macht sich auch beim Sorgentelefon bemerkbar. "Durch wenig Ablenkung bleibt viel Zeit zum Grübeln", erklärt Lena. Streit mit den Eltern oder Liebeskummer belaste so noch mehr als sonst. Hat zum Beispiel ein Jugendlicher sowieso schon mit psychischen Herausforderungen wie Angstzuständen zu kämpfen, werde die Situation für ihn besonders anstrengend.

© SZ vom 19.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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