Süddeutsche Zeitung

Bundestagswahl:Heimat der Staatsbürger

84,4 Prozent - nirgendwo sonst in Deutschland war die Wahlbeteiligung so hoch wie im Landkreis. Ein Erklärungsversuch

Von Martin Mühlfenzl

Vielleicht spiegelt ja die Fassade des Baierbrunner Rathauses die Antwort wider. Dieser ehemalige Bauernhof, der sorgsam restauriert worden ist und gleichermaßen Tradition und Moderne repräsentiert. Gefragt also, warum die Bürger im Landkreis überwiegend zufrieden sind, gerne hier leben und das auch zum Ausdruck bringen, gibt das pittoreske Baierbrunner Rathaus die Antwort: Vielfalt spielt eine große Rolle. Das Zusammenspiel aus Heimatverbundenheit und großer Offenheit. Und natürlich: Es gibt nicht die eine Antwort.

Baierbrunn, das Idyll an der Isar, ist das, was ein im Kreis nicht so bewanderter Betrachter als "Kaff" bezeichnen würde. Nur 4000 Einwohner, aber so selbstbewusst und autark, dass es die Menschen nicht mehr für nötig halten, einen CSUler zum Bürgermeister zu wählen.

Aber zur Wahl gehen sie. Und zwar in so großer Zahl, dass jene, die am Wahlsonntag kurz überlegen, daheim zu bleiben, schon aus Angst vor dem Anschiss beim Bäcker am nächsten Morgen lieber doch den Zettel in die Urne werfen. 89,9 Prozent der Baierbrunner haben bei der Bundestagswahl vom 24. September ihre Bürgerpflicht erfüllt. Das ist Rekord im Rekordwahlkreis: Denn 84,4 Prozent Wahlbeteiligung im Wahlkreis München-Land sind ein Spitzenwert - deutschlandweit. Auf Bundesebene lag sie bei 76,2 Prozent.

Rekorde in allen Bereichen

Der Landkreis ist in vielfältiger Weise einer der Rekorde. Die meisten Dax-Unternehmen, die meisten Gymnasien, die reichsten Gemeinden. Die meisten sozialversicherungspflichtigen Jobs. Vollbeschäftigung. Die höchste Dichte an Freiwilligen Feuerwehren und Kleinkunstbühnen. Kaum zu bremsendes Bevölkerungswachstum, eine extrem hohe Fluktuation. Eine drastische Wohnungsnot und der tägliche Verkehrsinfarkt. In diesem Spannungsverhältnis der Extreme bewegen sich Bürger und Politiker gleichermaßen.

Warum gehen die Menschen hier auch noch in so großer Zahl wählen? "Weil wir unglaublich interessierte Bürger haben", sagt Baierbrunns parteilose Bürgermeisterin Barbara Angermaier. "Das Demokratieverständnis ist in unserer Gemeinde sehr ausgeprägt. Das merken wir bei allen Entscheidungen. Die Bürger bringen sich ein, wollen mitreden und tun das auch."

Nach der Bundestagswahl 2013, bei der die Wahlbeteiligung im Landkreis nur bei 77,5 Prozent (Bund: 71,5 Prozent) lag, empfahl die Bertelsmann-Stiftung acht Punkte, mit denen Nichtwähler zurückgewonnen werden sollten: Darunter Wählen ab 16 Jahren, die Vereinfachung des Wahlrechts oder die Online-Abstimmung. Nichts davon ist realisiert worden - und dennoch ging die Wahlbeteiligung steil nach oben - im Landkreis besonders.

Am Gymnasium Neubiberg organisieren die Schüler eine Wahl

Am Neubiberger Gymnasium durften 16-Jährige probeweise abstimmen. Bei einer internen Bundestagswahl, die auf Initiative der Schüler abgehalten worden war und beispielhaft für die politische Bildung an der Schule steht. "Es ist natürlich unser Auftrag, die Schüler zu guten Staatsbürgern zu erziehen. Dafür gibt es die entsprechenden Fächer", sagt Direktor Reinhard Rolvering.

"Dieses Interesse an der Politik kommt aber auch von den Schülern selbst. Sie organisieren sich in Arbeitskreisen, laden Politiker zum Gespräch ein und stemmen eine Wahl." Ob es alleine die Bildung ist, die aus den Gymnasiasten künftige Wähler herausbildet, vermag Rolvering nicht zu sagen. "Aber wir stellen fest, dass unsere Schüler viel hinterfragen und reflektieren", sagt der Schulleiter.

Übertragen auf die Schullandschaft des Landkreises wird deutlich, das zweifellos ein Zusammenhang zwischen guter Bildung und dem Wahlverhalten besteht. Laut Altlandrätin Johanna Rumschöttel, die maßgeblich Anteil am Ausbau der Schulen hatte, ist gute Bildung eine "Grundvoraussetzung", um Menschen zur Wahl zu bewegen. Es sei aber auch die Vielfalt, gepaart mit einem außerordentlichen Zusammenhalt der Gesellschaft, die ein hohes Maß an "politischer Partizipation" förderten.

"Man merkt das an der sehr guten Integration. Nicht nur der Flüchtlinge, auch der deutschen Migranten", sagt Rumschöttel. "Die Bevölkerung, das merken wir zum Beispiel in meinem Heimatort Neubiberg, verändert sich rasant. Trotzdem gelingt es, die Menschen zusammenzuführen - weil sie es wollen."

Gelb vor Rot. Mehr Vielfalt geht kaum

Diese Veränderungen, die im Landkreis vom ländlichen Raum bis in die urbanen Zentren des Nordens zu spüren sind, klassifiziert Landrat Christoph Göbel in folgendem Spannungsfeld: "Der Landkreis ist konservativ, bürgerlich, modern, offen und liberal." Am Mittagsbüfett würde es heißen, es ist für jeden etwas dabei. Das zeigte sich auch am Ergebnis: Die CSU nur bei 37,3 Prozent, die FDP zweitstärkste Kraft (15,3), nur noch 14 Prozent für die SPD, Grüne bei 12,6, die AfD mit 9,4 und die Linke bei 5,1. Mehr Vielfalt geht kaum.

Allerdings lässt sich auch hier eine kleinere Kluft zwischen Stadt und Land beobachten. Am geringsten war die Wahlbeteiligung in den 29 Städten und Gemeinden in Haar (79,1 Prozent). Auch in Garching und Unterschleißheim pendelte sie sich bei "nur" 80 Prozent ein. Straßlach-Dingharting hingegen kam mit 87,83 Prozent nahe an Baierbrunn heran.

Das sind Werte, von denen sie im Herzen der Republik nur träumen können: In Berlin-Mitte gingen gerade einmal 73,4 Prozent der Bürger zur Wahl.

Für Christof Schulz, Leiter der Volkshochschule Südost, ist eine Gesellschaft immer von den "Fliehkräften der Gleichgültigkeit" bedroht - auch in einer sehr reichen und manchmal satten Region. "Gerade bei der politischen Bildung geht viel mehr", sagt Schulz. "Auch in den Schulen. Wir stehen als Partner bereit." Es müsse die Generation, die noch nicht zur Wahl geht, angesprochen werden. "Und auch wir müssen unser Angebot noch verbessern etwa mit Veranstaltungen zu aktuellen politischen Themen", sagt Schulz.

Wenn die Bürger einmal für Politik, für Partizipation gewonnen sind, sagt Baierbrunns Bürgermeisterin Barbara Angermaier, blieben sie dabei. "Dann wollen sie ihre Stimme abgeben. Und sie wollen, dass ihre Stimmen gehört werden."

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Quelle:
SZ vom 14.10.2017
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