Bundestagswahl:Das grüne Gewissen

Grünen-Bundesparteitag

Anton Hofreiter hat in der Arktis selbst gesehen, wie sich die Umwelt verändert: "Da stehst du auf 40 000 Jahre altem Eis und das schmilzt dir unter dem Arsch weg." Hier ist er bei seiner berühmten Wutrede beim Bundesparteitag 2017 zu sehen.

(Foto: dpa)

Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen im Bundestag und Direktkandidat aus Sauerlach, hat eine Mission: "Wir wollen regieren, um zu verändern", sagt er und setzt sich vor allem für die Umwelt und den Klimaschutz ein.

Von Martin Mühlfenzl

Plötzlich ist er weg, der Toni. Nur noch ein leichtes Rauschen funkt aus der Leitung. Aber er hat ja schon vorher gewarnt, dass die Verbindung abbrechen könnte - hier auf dem flachen Land in Ostfriesland, wo links und rechts kilometerweit das Grün dominiert und sich am Horizont die Windräder rasend schnell drehen. Eigentlich ist das ein Landstrich, der Anton Hofreiter, 47, ein Lächeln ins Gesicht zaubern müsste. Natur satt gepaart mit einer den Technologien der Zukunft.

Als der Sauerlacher Bundestagsabgeordnete der Grünen ein paar Minuten später zurückruft, ist aber sofort klar, dass er sicher nicht lächelt. "Die Merkel regt mich so auf", dröhnt es durchs Telefon - bei jetzt bester Qualität. "Die redet immer von Netzausbau und Digitalisierung und alle zwei Minuten bricht alles zusammen." Und weil der Fraktionschef der Grünen im Bundestag gerade in Fahrt ist legt er noch nach gegen einen seiner Lieblingsgegner: "Und dann dieser Dobrindt. Nennt sich Minister für digitale Infrastruktur und steckt jeden Euro in die Straße." Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich die ostfriesischen Windräder durch diesen stürmischen Ausbruch noch ein wenig schneller drehen würden.

Da tourt derzeit einer durch die Republik, der eine klare Mission hat - und vor allem Haltung zeigt. Als die Mitglieder der Partei Anfang des Jahres Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir in ihrer Urwahl zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf bestimmten, war vielen schnell klar, dass zwei sehr ähnliche Typen - Realos obendrein - grüne Inhalte zu vertreten hätten. Sehr böse Zungen behaupten gar, zwei politisch weichgespülte Sprechautomaten würden durch einen eher blassen Wahlkampf stolpern.

In der Heimat vereehren sie ihren "Toni"

Hätte die Bundespartei bei der Urwahl nur die Mitglieder im Landkreis München gefragt, wäre das Ergebnis - Hofreiter landete hinter Özdemir und Robert Habeck aus Schleswig-Holstein nur auf Rang drei - ganz anders ausgefallen. Markus Büchler, Grünen-Kreisrat aus Oberschleißheim, vermutete nach Hofreiters Niederlage, dass dessen Herkunft eine Rolle gespielt habe: "Manch einer an der Basis hat sich gedacht: Mit einem Bayern wird es schwer im Bundestagswahlkampf." Gerade im hohen Norden.

Hier in seiner Heimat indes verehren sie ihren "Toni" regelrecht. Vor allem aber nehmen sie ihn so, wie er ist: Manchmal ein wenig hemdsärmelig, aufbrausend kann er sein, aber auch sehr nahbar und locker. Wer den Politiker Hofreiter gewissermaßen in seiner natürlichen, grünen Umgebung erleben will, sollte ins Eine-Welt-Haus in der Münchner Schwanthalerstraße kommen, wenn dort der Kreisverband zu einem seiner monatlichen Treffen lädt. Die entwickeln sich meistens eher zu gemütlichen Familienzusammenkünften, bei denen der nach Berlin entschwundene Anhang über die wichtigsten bundespolitischen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit berichtet. Und zwar so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Anton Hofreiter ist in Sauerlach sozialisiert worden, der Gemeinde im Süden des Landkreises mit gerade mal 8000 Einwohnern, in der es die Jugend entweder in den Fußball- oder Handballverein, zur Jungen Union oder in die Natur treibt. Für die Grünen ist es ein Glücksfall, dass sich der Toni für die dritte Variante entschieden hat. Als er 16 war, sagt Hofreiter, habe ihm sein Vater einen Geigerzähler in die Hand gedrückt, kurz nach der Explosion des Kernkraftwerks Tschernobyl im Frühjahr 1986. Erschrocken sei er, als das Messgerät im heimischen Garten heftig ausschlug - aber es war für ihn auch ein einschneidendes Erlebnis. Nach dem Abitur sei die Entscheidung schnell gefallen, Biologie zu studieren, es folgte eine Karriere an der Uni, ehe er 2005 erstmals in den Bundestag gewählt wurde.

Rein äußerlich wirkt er aus der Zeit gefallen

Dort hat Hofreiter, der vielmehr Pragmatiker, denn begnadeter Strippenzieher ist, eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Sein Aufstieg bis zum Fraktionsführer hat viele Beobachter außerhalb und in der eigenen Partei überrascht - anfangs. Ein Bayer, der das auch nicht verbergen will oder kann, Vollbart, die lange Mähne. Das Bild eines Grünen, der wie aus der Zeit gefallen wirkt und an die Gründungsphase der Partei erinnert. Rein äußerlich. Denn inhaltlich ist der Sauerlacher mittlerweile das unumstrittene Gewissen seiner Partei und der reinste Gegenentwurf zum Realo und Autolobbyisten Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grünen Ministerpräsidenten. Zu Hofreiters liebsten Terminen und Auftritten gehören die Lesungen aus seinem Buch "Fleischfabrik Deutschland", in dem er detailliert und aufrüttelnd beschreibt, welche Auswirkungen die Massentierhaltung hat und wie sie "unsere Lebensgrundlagen zerstört". Bei diesen Gelegenheiten hängen die Zuhörer an seinen Lippen wie von der Erkenntnis Gesalbte; würde Winfried Kretschmann zu diesem Thema reden, würden wohl viele wieder zu Fleischessern.

"Das Eis schmilzt dir unter dem Arsch weg."

Wer etwas bewegen will, der braucht Aufmerksamkeit. Das weiß auch Hofreiter, der die sozialen Medien schon längst für sich entdeckt hat - und ihre Wirkung kennt. Ein sensationeller Coup ist ihm mit einer sehr ernst gemeinten Reise gelungen, die ihn in die Arktis nach Grönland führte - und ihm auch nahe ging. "Da stehst du auf 40 000 Jahre altem Eis und das schmilzt dir unter dem Arsch weg", sagte er nach seiner Rückkehr. "Das ist einfach nur krass." Die Bilder vom Naturschützer im nicht mehr ganz so ewigen Eis waren nicht weniger beeindruckend als seine Wortwahl.

Wie auch der Auftritt auf dem Bundesparteitag im Juni im Berliner Velodrom. Der Kopf hochrot und innerlich geladen steht Hofreiter auf der Bühne, hinter ihm erstrahlt auf der Leinwand ein Eisbär - und der Fraktionschef tobt. Er drischt verbal auf Trump ein, auf die Kanzlerin und deren "Verweigerungshaltung" beim Klimaschutz, auf VW. Hofreiter rockt und die Delegierten applaudieren mehrmals stehend. Manch einer wird daran gedacht haben, ob er bei der Urwahl nicht doch falsch abgestimmt hat. "Wir wollen regieren, um zu verändern", brüllt Hofreiter, dem sein Mandat dank Platz zwei auf der bayerischen Landesliste sicher ist, zum Schluss.

Wenn er nach Hause kommt, zieht es ihn immer wieder auch an die Isar. "Die Fließende" liegt ihm am Herzen. Und sie ist ein wenig wie er selbst, hier zwischen der Schäftlarner Brücke und dem Ickinger Wehr: Vor Jahren aus dem eng gestrickten Korsett gezwängt, das ihr die Menschen einst verpasst haben. Renaturiert, mal reißend, mal gemütlich hinfließend. Aber sicher nie langweilig.

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