Süddeutsche Zeitung

Brunner-Prozess in München:Eine verstörende Explosion von Gewalt

Der Solln-Prozess hat aufgeklärt, wie es zu den fatalen Schlägen am S-Bahnhof kam. Offen bleibt: Was hat Dominik Brunner dazu bewogen, mit einem Faustschlag zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen?

Hans Holzhaider

Der Prozess um den Tod von Dominik Brunner neigt sich dem Ende zu. Die Beweisaufnahme steht kurz vor dem Abschluss. Der Ablauf des Geschehens, an dessen Ende der 50-jährige Geschäftsmann tot auf dem Bahnsteig des Münchner S-Bahnhofs Solln lag, ist, so weit es dem Gericht möglich war, aufgeklärt.

Man weiß, dass Dominik Brunner an jenem 12.September 2009 in der S-Bahn saß, die um 15.58 Uhr an der Donnersbergerbrücke in Richtung Wolfratshausen abfuhr. Dass dort vier Schülerinnen und Schüler sowie die beiden heutigen Angeklagten Markus S. und Sebastian S. einstiegen. Und dass die beiden sich während der elf Minuten dauernden Fahrt darüber unterhielten, wie sie die vier Schüler "abziehen" wollten, nachdem sie vorher am Bahnsteig schon versucht hatten, von ihnen Geld zu erpressen. Man weiß, dass Brunner sich einschaltete, sie aufforderte, das zu lassen, und, als er selbst angepöbelt wurde, mit seinem Handy die Polizei anrief und ankündigte, er werde mit den vier Schülern am Bahnhof Solln aussteigen. Der Polizeibeamte in der Notrufzentrale forderte Brunner auf, dort auf die Polizei zu warten und sich bemerkbar zu machen.

In Solln stiegen zunächst Brunner und die vier Schüler, nach ihnen die beiden Angeklagten, aus. Mehrere andere Fahrgäste, die auch ausgestiegen waren, gingen in Richtung des Ausgangs. Brunner aber blieb stehen, wandte sich zu den beiden Angeklagten um, legte seine Jacke und seinen Rucksack ab, ging in Boxerstellung und versetzte Markus S. einen kräftigen Faustschlag, der diesen voll aufs Auge traf. Daraufhin stürzten sich Markus S. und Sebastian L. auf Brunner und schlugen wild mit den Fäusten auf ihn ein.

Die Aufzeichnung von Brunners Handy, das wohl durch Zufall während der gesamten Dauer der Schlägerei eingeschaltet war, zeigt, dass Brunner zumindest in der ersten Phase der Auseinandersetzung kräftig mitgemischt hat. "Oan derwischt's glei" ("Einen erwischt es gleich") ist zu hören, dann, mehrmals hintereinander, "I nimm oan mit" ("Ich nehme einen mit"). Dann sind nur noch die beiden Angreifer mit wüsten Beschimpfungen zu hören. Brunner kam auf ungeklärte Weise zu Fall, und Markus S. schlug nun von oben weiter auf ihn ein und versetzte ihm mindestens drei heftige Fußtritte, von denen einer Brunner an die rechte Schläfe traf. Sebastian L. schlug in dieser Phase nicht mehr zu, versuchte möglicherweise auch, S. zurückzuhalten. Als Brunner sich nicht mehr bewegte, flohen die beiden über die Gleise.

Brunner stand noch einmal auf, sagte etwas wie "Oh, das war hart" und sackte dann wieder leblos zusammen. Sanitätern und Notärzten gelang es trotz zweistündiger Bemühungen nicht, ihn wiederzubeleben. Die Obduktion ergab, dass Brunners krankhaft vergrößertes Herz durch den außerordentlichen physischen und psychischen Stress der Schlägerei versagt hatte. Keine der durch Faustschläge und Fußtritte verursachten Verletzungen wäre, weder einzeln noch im Zusammenwirken, tödlich gewesen.

Das sind die Fakten. Die Jugendkammer des Landgerichts München I wird sie zu bewerten haben, wobei sich abzeichnet, dass zumindest für den Angeklagten Sebastian L. der Vorwurf des Mordes nicht zu halten sein wird. Ein Tötungsvorsatz, auch in Form der billigenden Inkaufnahme, ist ihm nicht nachzuweisen. Anders liegt der Fall bei Markus S. - wer einen Menschen mit dem beschuhten Fuß mit voller Wucht gegen den Kopf tritt, der muss damit rechnen, dass dieser stirbt. Dass die Verletzung für einen Gesunden tatsächlich nicht lebensbedrohend gewesen wäre, ändert daran nichts.

Ob die Tat als Mord oder als Totschlag zu werten ist, bleibt offen. Das Gericht wird abwägen müssen, ob die beiden Täter aus Verärgerung über Brunners Eingreifen schon entschlossen waren, ihn zu attackieren, oder ob ihr Angriff eine Kurzschlussreaktion auf die zweifellos vorangegangene Provokation durch Brunners ersten Schlag war. Da S., der zur Tatzeit schon 18 Jahre alt war, mit einiger Sicherheit nach Jugendrecht zu verurteilen sein wird, kommt dieser Frage keine allzu große Bedeutung für das Strafmaß zu.

Jenseits dieser dürren juristischen Bewertung bleibt diesem Fall aber etwas Verstörendes, etwas, das auch durch die durchweg sachliche und gründliche Aufklärungsarbeit des Gerichts im Ungewissen verharrt. Dominik Brunner wurde von Zeugen, die ihn lange und gut kannten, als ein durch und durch rationaler, unaufgeregter, abwägender, in schwierigen Situationen gelassener und vermittelnder Mensch geschildert, einer, dem sehr viel an Ordnung, Anstand und Zuverlässigkeit lag. Keiner der Zeugen hat ihn je körperlich aggressiv erlebt. Was ihn bewogen hat, in der ohnehin angespannten Situation am Sollner Bahnsteig mit einem Faustschlag Öl ins Feuer zu gießen, statt mit seinen Schützlingen zusammen mit den anderen Fahrgästen zum Ausgang zu gehen und auf die Polizei zu warten, bleibt ein Rätsel.

Markus S., der Haupttäter, ist sicherlich in vielem das Gegenteil Brunners: Sein Leben war in größtmöglicher Unordnung, ohne feste Strukturen, ohne zuverlässige Bindungen, es bestand vor allem aus Langeweile, Alkohol und Marihuana. Aber durch brutale körperliche Gewalt war er bis zu diesem Tag nicht aufgefallen. Einmal war er in eine Schlägerei mit ein paar Türken verwickelt, das Verfahren gegen ihn wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Zeugen schilderten ihn als eher schüchtern und still, einen Ausbund an Unauffälligkeit. Insofern ist auch für ihn diese Explosion von Gewalt ein bisher nicht erklärtes Ereignis - vielleicht kann der Jugendpsychiater, der am Mittwoch zu Wort kommen soll, etwas zur Erhellung beitragen. (München)

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SZ vom 02.08.2010/hai
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