Bilanz des Waldzustands:Diagnose im Unterholz

Der Klimawandel und der Verbiss machen dem Forst zu schaffen. Fachleute sammeln mit Hilfe von Satellitentechnik und akribischer Handarbeit Daten und erkunden die Lage. Sie werden Zeugen eines massiven Umbruchs. Der Ausgang ist offen.

Von Udo Watter

Von dem amerikanischen Waldläufer und Trapper Jim Bridger (1804 bis 1881) ist der hübsche Spruch überliefert: "Ich habe mich nicht verirrt. Ich wusste nur einfach ein paar Wochen nicht, wo ich war." Das kann einem an diesem Vorfrühlingstag in dem von Fichten und etlichen Buchen dominierten Waldstück zwischen Hohenschäftlarn, Ebenhausen und der Garmischer Autobahn nicht passieren. Gleichwohl will Gerrith Hinner, Leiter des Forstreviers "Pullach im Isartal" (das den gesamten Münchner Süden den Fluss entlang umfasst), genau bestimmen, wo er und seine Begleiter sich befinden.

Wie es sich für einen modernen Förster gehört, kann er auf Software-Unterstützung zurückgreifen, auf einem Tablet öffnet er das Positionsfenster. "Wir warten auf den Satelliten, Aramis wartet auf das Reh", sagt er schmunzelnd und schaut sich nach seinem Hund um. Aramis ist ein überaus agiler Irish Setter, der zwischen den Bäumen herumtobt und demonstriert, dass wilder Freistil noch mehr Spaß macht als entspanntes Waldbaden.

Zum Spaß sind seine menschlichen Begleiter an diesem Tag freilich nicht hier: Nein, Hinner, Waldbesitzer Andreas Wach und Johann Schmid als Vertreter der Schäftlarner Jäger sowie Dagmar Rothe, Abteilungsleiterin am Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ebersberg, sind durchs Unterholz hierher gewandert, um ihren Teil zur Erstellung des Forstlichen Gutachtens beizutragen. Das gibt es im Freistaat seit 1986, wird alle drei Jahre und heuer zum 13. Mal vorgenommen, für die rund 750 Hegegemeinschaften in ganz Bayern. Im Amtsdeutsch "Verjüngungsinventur" genannt, bedeutet dies, die Situation der Waldverjüngung zu beleuchten, speziell ihre Beeinträchtigung durch Schalenwildverbiss und anschließend darauf basierende Empfehlungen zur Abschussquote zu geben. Es geht also um die Balance zwischen Wald und Wild, die Frage, was wächst wie gut nach - bei der natürlichen Verjüngung bedingt durch herabgefallene oder angeflogene Samen von umstehenden Bäumen. Oder auch Vögel wie den Eichelhäher. Es geht primär ganz konkret um die Frage, welchen Einfluss das Rehwild auf die Jungpflanzen verschiedener Baumarten nimmt.

Bilanz des Waldzustands: Revierleiter Gerrith Hinner erstellt Forstliche Gutachten, mit tierischer Unterstützung von Hund "Aramis".

Revierleiter Gerrith Hinner erstellt Forstliche Gutachten, mit tierischer Unterstützung von Hund "Aramis".

(Foto: Hartmut Pöstges)

Die Gruppe um Hinner hat nun den ersten Gitternetzpunkt lokalisiert und die Arbeit kann beginnen: Damit die Untersuchungsflächen bayernweit nach objektiven Gesichtspunkten ausgewählt werden, wird nämlich ein Gitternetz, also eine Art Raster, über die Waldfläche des ganzen Landes gelegt, dessen Koordinaten in Karten festgehalten werden. Die den Rasterpunkten nächstgelegene verbissgefährdete Fläche wird dann stichprobenartig auf Schäden untersucht. "Es ist hochkomplex", sagt Hinner. "Und es ist mühselig."

Die Rotbuchen werden weiß markiert

Dass das stimmt, wird sich in den nächsten Stunden zeigen, aber Hinner und seine Begleiter wirken nicht von Mühsal beladen, sondern scheinen die Akribie erfordernde Beschäftigung an der frischen Luft durchaus zu genießen. Erst werden die rot-weiß-roten Fluchtstäbe gesetzt, dann entlang einer Aufnahmegeraden von 50 Metern fünf Stichprobenpunkte markiert, gleichmäßig verteilt, im Abstand von zehn Metern. Es heißt jetzt, an jedem dieser Punkte Verjüngungspflanzen in einem gewissen Radius zu erfassen. Es geht um zehn Pflanzen ab einer Höhe von 20 Zentimetern bis zur maximal möglichen Verbisshöhe von 1,30 Metern im Radius von 3,50 Metern, die ihrerseits noch mal dreifach unterteilt erfasst werden. In dem Waldstück in der Gemarkung Schäftlarn sind das Rotbuchen, die Hinner mit weißen Wäscheklammern markiert.

Noch kleinere Pflanzen, hier winzige Fichten, werden dann in einem engeren Radius erfasst, fünf an der Zahl, sie werden mit türkisen Wäscheklammern bedacht und später untersucht Das Ergebnis ist insgesamt für die Fachleute sehr befriedigend. Nur viele Hasenverbisse, kaum Rehverbisse. "Hasen machen einen glatten Schnitt, schräg angeschnitten", erklärt Hinner. Rehe hinterlassen eine "Rumpfung", mitunter sind Triebe dann gequetscht oder ausgefranst. Gewissenhaft werden später die Ergebnisse eingetragen ins Tablet, das auf einem mobilen Schreibtisch um Hinner gegurtet ist, generell umfassen die Daten auch Punkte wie Wuchsbezirk, Schutzstatus, Besitzart, Nummer des Jagdreviers.

Bilanz des Waldzustands: Hinner erkundet die Situation der Waldverjüngung und ihre Beeinträchtigung durch Wildverbiss im Isartal - hier in einem Wald bei Schäftlarn.

Hinner erkundet die Situation der Waldverjüngung und ihre Beeinträchtigung durch Wildverbiss im Isartal - hier in einem Wald bei Schäftlarn.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Die Ergebnisse an den weiteren Stichprobenpunkten fallen ähnlich aus. Sowohl Hinner als auch Waldbesitzer Wach, der wie Rothe und Schmid immer wieder mithilft, zeigen sich angesichts sehr maßvoller Wildverbissspuren "sehr zufrieden". Gute Teamarbeit hilft nicht nur hier im Konkreten, beim Messen und Verbissbestimmen sondern generell, wie Dagmar Rothe betont: "Wichtig ist immer auch die Kommunikation zwischen Waldbesitzer und Jäger." Im Münchner Süden sei die meist gut, sagt sie. Das sagt auch Johann Schmid, der zudem die Art des Umgangs mit Hinner lobt: "Wir haben einen super Revierförster." Zwischen Wach, der selber Jäger ist und seinen Sohn Lauri mitgebracht hat, sowie Schmid stimmt die Chemie ohnehin, das spürt man schnell. Man tauscht sich etwa über Jagderfahrungen aus: So ist hier vor zwei Jahren mal ein Hirsch erlegt worden, der aus dem Forstenrieder Park - wo Rotwild lebt - trotz Zauns abgehauen und hierhin in den Münchner Süden abgewandert war, wo sonst nur Rehe leben. Auch Wildschweine verschlägt es ab und an in die Gegend, die als Hainsimsen-Buchenwald gilt.

Dass die jungen Rotbuchen im Forst von Andreas Wach, der insgesamt 400 Hektar umfasst, ganz gut gedeihen, ist auch dem Umstand geschuldet, dass dieser Bereich eher licht ist und viel Sonne zum Boden vordringt. Die setzt sich allmählich auch an diesem Tag durch, taucht durch die vielen Fichten und Buchen und hüllt das Moos am Boden in ein weiches Licht. Man kann jetzt dort auf hellgrün illuminierter Fläche sogar gut einen ausgetretenen Fuchspfad erkennen.

Bilanz des Waldzustands: Wäscheklammern, Fluchtstäbe, Computertechnik - dem Revierleiter stehen diverse Hilfsmittel zur Verfügung.

Wäscheklammern, Fluchtstäbe, Computertechnik - dem Revierleiter stehen diverse Hilfsmittel zur Verfügung.

(Foto: Hartmut Pöstges)

So schön, fast zauberisch die Stimmung nun ist, dem Wald an sich geht es nicht gut.

Kürzlich hat der aktuelle deutsche Waldzustandsbericht ein teils dramatisches Bild gezeichnet. Das ist auch Rothe bewusst, sie betont aber, dass man differenzieren müsse. Das gelte nicht nur im deutschlandweiten Maßstab, sondern etwa auch im Landkreis München. In der Münchner Schotterebene im Osten etwa sei die Situation deutlich schwieriger, da schon aufgrund der Bodenbeschaffenheit die Trockenheit den Bäumen mehr zusetze. Richtung Oberland, im Bereich der schwäbisch-bayerischen Jungmoräne mit humusreichem Oberboden wird deutlich mehr Niederschlag gespeichert - und es regnet auch mehr.

Zum Glück gab es mehr Niederschlag

Im vergangenen Sommer habe Südbayern Glück gehabt, weil es dort mehr Niederschlag gegeben habe als anderswo, so Rothe. Auf Dauer freilich laufe es auf mehr Mischwälder hinaus. Unter den Nadelbäumen ist die Tanne besser für den Klimawandel geeignet, die für die Holzindustrie bisher so wichtige Fichte hält Trockenheit schlechter aus und ist dann schneller anfällig für Borkenkäfer. So freut sich Hinner denn auch nicht nur, als er an einer Stelle eine junge Waldkiefer erblickt, sondern auch über kleine Weißtannen, die schon eine gewisse Formschönheit entfaltet haben. Die machen im Gegensatz zu den Fichten nur einen relativ geringen Prozentsatz in den hiesigen Wäldern aus, nicht zuletzt weil Rehe besonders gerne an ihren süßen Trieben knuspern.

Die fünf Stichprobenpunkte gewissenhaft zu erledigen, bedarf Zeit, aber das Resultat ist gut, es gibt vergleichsweise wenig Wildverbissspuren, was für einen grünen Haken spricht, also den Status "günstig" bis "tragbar", also keine Erhöhung der Abschussquote. Die Verantwortlichen werden an diesem Tag noch weitere Gitternetzpunkte aufsuchen und deren Umgebung prüfen. Bis das Forstliche Gutachten in Bayern überall erstellt ist, wird es dauern - wohl bis Mai. Dann folgen die statistische Auswertung und die Empfehlungen.

Welches der Baum der Zukunft hierzulande ist, und wie die Zukunft des Waldes generell aussieht? Ist der Import südlicher Baumarten, die Klimaerwärmung und Trockenheit besser verkraften, eine Lösung? Nun, diese leiden dafür unter Spätfrost, wie er immer wieder vorkommt. "Wir wissen nicht, welcher Baum das Rennen macht", sagt Rothe. Das entlässt Menschen wie sie und andere, die mit dem nie ganz konfliktfreien und emotional diskutierten Thema "Wald" beruflich zu tun haben, nicht aus der wichtigen Aufgabe, vorausschauend und ausgewogen zu handeln. "Wenn es um den Wald geht, denken wir in ganz langen Zeiträumen", so Rothe.

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