Laut einer Sage, die sich in Oberbayern um die mittelalterlichen Erdställe rankt, lassen drei Jungfrauen aus den unterirdischen Gängen wunderschöne Gesänge hören. Derzeit aber könnte ein ganzer Chor von Jungfrauen im Ayinger Erdstall aus voller Kehle singen, man würde keinen Ton hören. "Der Zugang ist dicht, da ist der Deckel drauf", sagt Kirchenpfleger Andreas Bachmair.
Aber nicht mehr allzu lange, und das ist die ebenso gute wie überraschende Nachricht für jeden, der gerne einmal einen Blick in die geheimnisumwitterte Unterwelt der Ur-Ayinger werfen würde, die im September 2016 bei Bauarbeiten für das neue Pfarrheim von St. Andreas entdeckt worden ist. "Der Erdstall wird in Abstimmung und nach Maßgabe der Pfarrgemeinde, die die Schlüsselhoheit besitzt, öffentlich zugänglich sein", teilte Alexandra Beck, Sprecherin des Landesamtes für Denkmalpflege, mit.
Details stehen laut Kirchenpfleger Bachmair zwar noch nicht fest, aber geplant seien Führungen mit fachlicher Begleitung entweder bei Anfrage oder regelmäßig an Wochenenden. Allerdings erst nach Abschluss der Bauarbeiten am neuen Pfarrheim, voraussichtlich im Frühjahr 2018.
Die Nachricht von der Öffnung des circa 60 Meter langen Tunnelsystems für die Allgemeinheit kommt überraschend, hatte es doch im Sommer dieses Jahres noch geheißen, die historische Anlage sei aus Sicherheitsgründen allenfalls für Forschungszwecke begehbar, weil das gesamte Tunnelsystem einsturzgefährdet sei und sich an einigen Stellen schon Deckenteile gelöst hätten. Ein circa sechs Meter langer Tunnelabschnitt etwa war bereits kurz nach der Entdeckung des Erdstalls eingestürzt und musste durch Betonröhren ersetzt werden.
Die Sicherung wurde unter extremen Bedingungen eingebaut
Inzwischen aber hat ein bergmännisches Unternehmen aus Sachsen unter räumlichen Extrembedingungen die fragilen Bereiche der Anlage durch den Einbau einer Türstockkonstruktion aus verzinkten Stahlprofilen abgesichert. Die Arbeiter mussten die Stahlteile teilweise in einem nur 90 Zentimeter hohen und 80 Zentimeter breiten Schlupf montieren. Insbesondere der 28 Meter lange und unter dem noch im Bau befindlichen neuen Pfarrsaal verlaufende Gang erhielt einen Stahlverbau.
Die Verzinkung verleiht dem vermutlich 1000 Jahre alten Erdstall zwar ein etwas futuristisches Aussehen, aber zumindest die circa zehn Quadratmeter große und mannshohe Schlusskammer bleibt original erhalten. Allein diese Schlusskammer lässt die Erdstallforscher in Verzückung geraten, ist sie doch einmalig in Oberbayern und eine vergleichbare bislang nur in der Oberpfalz und in Österreich gefunden worden.
Nicht nur der Erhalt des historischen Juwels, auch seine bergmännische Sicherung ist zum großen Teil dem Pfarrverband Aying-Helfendorf, insbesondere seinem Vorsitzenden und Kirchenpfleger Bachmair zu verdanken. Um den Erdstall, den auch sein fast perfekter Erhaltungsgrad weit hinauf an die Spitze aller 700 bislang in Bayern dokumentierter Erdställe hebt, für die Nachwelt zu erhalten, nahm der Pfarrverband ohne Murren eine lange Unterbrechung des Pfarrsaalbaus in Kauf. Nach altem Zeitplan hätte der Bau bereits im Juni dieses Jahres schlüsselfertig sein sollen.
Bachmair wiederum, der neben seinem kirchlichen Engagements auch Zweiter Bürgermeister der Gemeinde Aying ist, rührte die Werbetrommel für den Erhalt und die Sicherung der mittelalterlichen Anlage und konnte neben dem ohnehin begeisterten Landesamt für Denkmalpflege auch den Kreistag, den Bezirk Oberbayern, die Erzdiözese München-Freising und die Gemeinde Aying als Mitstreiter gewinnen. "Geschichte muss einem was wert sein", hatte Ayings Bürgermeister Johann Eichler wenige Tage nach der aufsehenerregenden Entdeckung der historischen Anlage gesagt. Im Falle des Erdstalls musste die Geschichte 235 000 Euro wert sein. Einen Zuschuss in Höhe von je 20 000 gewährten die Gemeinde und der Landkreis, der Bezirk beteiligte sich mit 15 000 Euro, die Denkmalpfleger mit 58 500 Euro und die Erzdiözese zeigte sich bereit, den großen Rest von 121 500 Euro zu übernehmen.
Holzkohlereste aus dem elften oder zweiten Jahrhundert
Mit der Sicherung des Erdstalls ist aus Sicht der Erdstallforscher freilich kein Schlusspunkt gesetzt. Die Einzelelemente der verzinkten Stahlprofile lassen sich für Forschungszwecke leicht ausbauen. Denn bei allem Jubel über den von ihnen als kleine Sensation empfunden Fund in Aying sind noch viele Rätsel nicht gelöst. Laut dem Ayinger Erdstallforscher Dieter Ahlborn wurden die in Aying vorgefundenen Holzkohlereste in die Zeit zwischen 1028 und 1184 nach Christus datiert. Aber warum Menschen im frühen Mittelalter Gänge unter die Erde zogen, weiß bis heute niemand. Dass sich die Menschen damals im Untergrund vor Feinden versteckten, lautet eine Theorie. Aber wie sinnvoll ist es, sich in einer Tunnelanlage zu verstecken, die nur ein Eingangsloch hat, in der es also bei Gefahr keinen Fluchtweg gibt?
Auch Vorratskammern waren die Erdställe nach Meinung der Forscher nicht. Dienten sie den Siedlern während der Zeit der Völkerwanderung als Leergräber, also als Erinnerungsstätten für ihre Verstorbenen? Nach einer weiteren Theorie könnten sie als Raum für die Seelen Verstorbener, die auf die Auferstehung warten, gedacht gewesen sein. Wunderschöne Gesänge von drei Jungfrauen wurden bislang nicht vernommen. Vielleicht erst dann, wenn der Deckel nicht mehr drauf ist.