Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Tatort Region, Folge 19:Mord beim Volkswandertag

Lesezeit: 4 min

Während mehr als 500 Menschen einen Rundkurs bei Aying ablaufen, wird eine 73 Jahre alte Teilnehmerin im Kaltenbrunner Schlag getötet. Vom Täter gibt es bis heute nur ein Phantombild.

Von Francesco Collini und Marie Hesslinger

Was an jenem Sonntagnachmittag genau passiert ist, wissen nur der Täter und der Wald. Luise Z. wurde erwürgt, womöglich vergewaltigt. Die Kleidung wurde ihr vom Leib gerissen, ihre Leiche im Wald liegengelassen. Heute, mehr als zehn Jahre nach dem Mord an der Rentnerin, fehlt vom Täter noch immer jede Spur.

Luise Z. war eine kleine, zierliche Frau, die Wanderungen liebte. In alten Medienberichten wird die alleinstehende Rentnerin als "kontaktfreudig" beschrieben. Am 7. Juni 2009 jedoch war sie meist allein unterwegs. Morgens besuchte die 73-Jährige zuhause in Neuperlach den Gottesdienst, dann fuhr sie mit der S-Bahn nach Aying. In dem idyllischen Dorf etwa 20 Kilometer südlich von München, das hauptsächlich für seine Brauerei bekannt ist, wollte sie an einem Volkswandertag der Wanderfalken Dürrnhaar teilnehmen, der in Aying startete.

Gegen Mittag traf sie auf die letzten Wanderer, die sich vom Parkplatz auf den Weg in den Forst machen wollten. Zuletzt soll ein Paar sie an der ersten Kontrollstelle des zehn Kilometer langen Wanderweges bei Egmating gesehen haben, während sie Tee trank. Von hier an gibt es nur noch Vermutungen, die sich damals aus Ermittlerkreisen über die Wochen und Monate angesammelt haben.

Luise Z. muss den gekennzeichneten Weg verlassen haben und zu einem entlegenen Waldfleck gekommen sein, wo der Täter sie dann angriff. Zwei Tage später meldete ihre Tochter sie als vermisst. Die Leiche war in einer dermaßen abgelegenen Gegend versteckt, dass Spaziergänger sie erst zwei Wochen danach entdeckten. Der Körper war nackt, die Kleidung war weg. Ein Hinweis auf ein Sexualdelikt? Ob Luise Z. vergewaltigt wurde, ist unklar. Alles, was neben der Leiche gefunden wurde, waren ihre Sonnenbrille und ein Paar Knöpfe ihrer Bluse. So lässt sich rekonstruieren, dass der Frau die Kleidung vom Leib gerissen wurde. Mehr nicht.

Es gab nicht einmal DNA-Spuren, denn der Täter war äußerst vorsichtig vorgegangen. Er muss die Leiche etwa 70 Meter weiter ins Forstinnere geschleift und sie in eine Mulde gelegt haben, ein paar hundert Meter von der Staatsstraße 2081 entfernt. Er habe sogar versucht, Körperteile der Frau anzuzünden, um mögliche Spuren zu vernichten, heißt es in mehreren Medienberichten. Die Kleidung und den Rucksack von Luise Z. nahm er mit.

Die Wanderfalken haben sich aufgelöst

Als die Polizei Ende Juni 2009 bekannt gab, dass jemand Luise Z. umgebracht hatte, veränderte sich das Leben in Aying komplett. Die Wanderungen, die jedes Jahr mehrere hundert Menschen aus ganz Bayern in die kleine Gemeinde gelockt hatten, werden seither nicht mehr organisiert. Die Wanderfalken aus dem Gemeindeteil Dürrnhaar lösten sich auf. Um zu verstehen, wie tief der Schock bei der Ayinger Bevölkerung saß und sitzt, reicht ein Besuch im Bierstüberl der Brauerei.

Dort treffen sich jeden Montag einige Männer zum Stammtisch, vom ehemaligen Polizeikommissar bis zum Lastwagenfahrer. "Manchmal laden wir auch Frauen ein", sagt Dirk Bremer. Der Mann wohnte im Juni 2009 erst seit kurzem mit seiner Frau in Aying. Der Mord an Luise Z. traf diese damals hart: "Sie geht immer noch mit gemischten Gefühlen in den Wald", erzählt der Rentner. "Es war schrecklich zu wissen, dass hier im Umkreis ein unwahrscheinlich grausamer Mord passiert ist." Er erinnere sich noch, "wie die Hundestaffeln sich am Polizeigelände versammelt haben", um in den Wald zu gehen.

Die Ermittler der Kripo Erding gründeten die "Soko Kaltenbrunn", die den Forst Stück für Stück durchsuchte. Vergeblich. Kleidung, Rucksack und sonstige Gegenstände des Opfers wurden nie gefunden. Am 3. Juli 2009 schloss die Soko die Spurensuche im Wald ab und begann die Arbeit in Aying. Praktisch alle Dorfbewohner seien befragt worden, liest man in den Berichten von damals. Dazu noch die etwa 530 Wanderer, die sich an jenem Sonntag im Juni beim Wanderverein angemeldet hatten. Es habe aber viele weitere gegeben, die einfach so gekommen waren, erinnert sich eine Besucherin aus Sauerlach, die nicht namentlich in der Zeitung genannt werden will.

Es waren wohl mühsame Tage für die Ermittler. Nicht einmal das Verteilen von 20 000 Flugblättern brachte das erwünschte Ergebnis. Die 5000 Euro, die als Belohnung für konkrete Hinweise ausgesetzt worden waren, auch nicht. Bis zu 80 Hinweise - unter anderem über einen angeblich "seltsamen" Übernachtungsgast - gingen innerhalb von wenigen Wochen ein, eine heiße Spur war nicht dabei.

Es vergingen Monate. Im Oktober kam dann der mögliche Wendepunkt, wie aus dem Nichts. Ein Jäger hatte in den Aufnahmen seiner Wildkamera einen Mann entdeckt, der am 15. Juni in der Nähe des Tatorts lauerte. Zu sehen war ein Mann mit schwarzen Haaren, etwa 35 Jahre alt, mit einem roten Pulli um den Hals. Es war die Spur Nummer 132. Die Lokalmedien veröffentlichten das Foto auf Bitten der Polizei.

Doch als der mutmaßliche Täter in Rosenheim aufgespürt wurde, stellten die Ermittler fest: Der Mann war bloß ein Durchreisender, der sich verfahren hatte und in den Wald ging, weil er dringend austreten musste. Inzwischen dominierte der Fall von Luise Z. in den Münchner Zeitungen wochenlang die Schlagzeilen. Er wurde bekannt als "Mord im Kaltenbrunner Schlag", benannt nach der Gegend zwischen Aying und Egmating, wo die 73-Jährige tot aufgefunden worden war. Auch die Sendung "Aktenzeichen XY" beschäftigte sich im Herbst 2009 mit dem Fall.

Anfang November 2009 erhielt die Polizei wieder einen wichtigen Hinweise. Ein Reiter, der am Tag des Mordes auch im Wald war, erinnerte sich an seine Begegnung mit einem Mann. Als der Reiter ihn grüßte, habe dieser bewusst sein Gesicht weggedreht. Dank der Beschreibung konnte die Polizei ein Phantombild erstellen. Der Täter war demnach etwa 50 Jahre alt und um die 1,70 Meter groß. Zur Tatzeit habe er glattes, dunkles Haar getragen, das über die Stirn hing.

Mögliche Verbindung zu einer Vergewaltigung am Brauneck

Gleichzeitig stellten mehrere Medien eine Verbindung des Falls im Egmatinger Forst mit einer Vergewaltigung her, die sich drei Jahre davor am Brauneck bei Lenggries ereignet hatte. Das Opfer: Auch eine alleinstehende Rentnerin, die ohne Begleitung wandern war. Der Täter: auch um die 1,70 Meter, dunkelhaarig, schmächtig. Er soll die Wegweiser umgesteckt haben, um die Frau in die Irre zu führen. Er hatte Handschellen und Klebeband dabei, mit denen er sein Opfer an einen Baum fesselte. Nach der Vergewaltigung ließ er die Frau nackt zurück. Es war ein Glücksfall, dass ein Jäger Stunden später die Rentnerin noch lebend entdeckte.

Zu etwaigen Verbindungen zum Fall in Brauneck oder sonstigen Entwicklungen in der Sache schweigen die Ermittler bis heute. Die Soko Kaltenbrunn wurde 2012 aufgelöst. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München II, die für den Mord an Luise Z. zuständig ist, nennt den Fall "erledigt". Gleichzeitig betont die Staatsanwaltschaft, dass die Ermittlungen bei ungelösten Kapitalverbrechen "nie aufhören". Solche Cold Cases werden regelmäßig überprüft. Deshalb halten sich Staatsanwaltschaft und Ermittler von damals trotz aller Anfragen, etwa zum Täterprofil, bedeckt. Doch nach mehr als zehn Jahren bräuchten sie vermutlich ein kleines Wunder, um den Fall im Forst noch zu lösen.

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Quelle:
SZ vom 20.08.2019
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