Süddeutsche Zeitung

Ausblick auf 2021:Weniger muss mehr sein

Die Kulturbranche im Landkreis München leidet unter dem Shutdown und sehnt sich nach Normalität. Vielleicht hat die Zwangspause aber auch positive Effekte

Von Udo Watter

Bürger des Landkreises München, die in die Zukunft schauen wollen, brauchen kein Fernrohr. Hightech- und Wissenschaftsstandorte von visionärer Relevanz sind überall ganz in der Nähe, von Garching über Ottobrunn bis Taufkirchen und Neubiberg wird im großen globalen Maßstab geforscht, gelehrt, gedacht und produziert - Reinhard Genzel, Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching, hat 2020 sogar den Physik-Nobelpreis gewonnen. Freilich betrifft das alles primär den technologischen Fortschritt, wie aber die Gesellschaft aus dieser disruptiven Krise der Pandemie hervorgeht, wie die Kultur als sublimierte, exemplarische Form des Menschlichen, Allzumenschlichen überleben und sich weiter entwickeln wird - das können wohl weder TU-Forscher noch Luft- und Raumfahrttechniker prophezeien. Vielleicht hätte Gudrun Penndorf aus Unterföhring eine Idee, die Comic-Übersetzerin, die 2020 das Bundesverdienstkreuz erhielt, hat immerhin neben vielen anderen Bänden auch "Asterix und der Seher" ins Deutsche übertragen. Hülfe also eine Eingeweideschau aus Wildschweinen oder Fischen? Oder besser aus chinesischen Fledermäusen? Nun ja, Pennhold hat dem Titel gebenden Seher nicht ohne Grund den schönen Namen "Lügfix" verpasst.

Dem berühmten Karl-Valentin-Bonmot nach war "die Zukunft früher auch besser". In jedem Fall war sie vor 2020 vorhersehbarer und verlässlicher, was Veranstaltungstermine betrifft. Das Emblem des Jahres 2020 im Kulturbereich war eben nicht "besonders wertvoll" sondern "abgesagt". Wie wird es weiter gehen? Werden die Bürgerhäuser in Garching und Unterschleißheim nach vollendeter Sanierung bald wieder ein belebter Auftrittsort sein? Werden sie am Kleinen Theater Haar mit dem umtriebigen Leiter Matthias Riedel-Rüppel streamen, bis der Arzt kommt? Wird der Ars-Musica-Chor Ottobrunn wieder in voller Stärke singen dürfen? Werden die Mitglieder der Blaskapelle Höhenkirchen-Siegertsbrunn wieder ungeniert ihrer Leidenschaft nachgehen? Wird die Demaskierungspflicht des Kabaretts weiter gepflegt werden?

Mit Sicherheit. Nur wann? Man würde ja am liebsten sagen: "Shut up Shutdown!" Aber er wird wohl noch eine Weile das gesellschaftliche und besonders das kulturelle Leben dominieren. Der ausgefallene Terminkalender Frühjahr 2020 ist praktisch ins Frühjahr 2021 verschoben worden und wird noch angefüttert mit den verlegten Veranstaltungen des Herbstes 2020. "Ich hoffe, dass es im März oder April wieder los geht", sagt Hannah Stegmayer. Die Leiterin des Bürgerhauses Pullach muss wie viele andere Veranstalter mit der Planungsunsicherheit leben. Viele Termine sind vorsorglich verschoben worden - von Taufkirchen über Oberhaching bis Unterschleißheim. In Unterhaching wurden die Kabarettprogramme von Simone Solga und Han's Klaffl und der Abend mit Axel Hacke vom Januar in den Sommer 2021 verlegt. "Wir freuen uns, dass wir so schon mal einen kleinen Lichtblick bieten können", erklärt Marion Brück vom Kulturteam.

Das häufige Umdisponieren, Termine verschieben, Hygieneplan erstellen, alternative Auftrittsmöglichkeiten schaffen, sei anstrengend, sagt Hannah Stegmayer, aber nicht so belastend wie die Lage der Künstler: "Die Künstler, die haben Stress. Wir sind eher in einer permanenten Geschäftigkeit." Kulturamtsleiterinnen, Chefs von Bürgerhäusern oder Kulturzentren sind eben keine frei schaffenden Kreativen, denen seit vielen Monaten die Einnahmen wegbrechen und die nach wie vor einer fragilen Zukunft entgegensehen. Zudem gab und gibt es diverse Fördermöglichkeiten für Bürgerhäuser wie in Pullach, Garching oder Unterföhring. So hat die Bundesregierung das Programm "Theater in Bewegung" in Zusammenarbeit mit der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen (Inthega) aufgelegt. Es wendet sich an Veranstalter mit Gastspieltheatern, die "insbesondere im ländlichen Raum die kulturelle Grundversorgung sicherstellen", wie es heißt. Da eine Wiederaufnahme des Gastspielbetriebs angesichts der begrenzten Zuschauerzahlen vielfach aus eigener Kraft nicht finanzierbar wäre, unterstützt die Bundesregierung sie mit einem Förderprogramm respektive dem Zukunftspaket "Neustart Kultur". Es soll durch partielle Honorarübernahme die Einnahmeverluste ausgleichen. Zudem wurden auch Mehrkosten zur Umsetzung von Schutzmaßnahmen kompensiert. Auch eine bessere Medienausstattung zur Umsetzung etwa von Live-Streaming fallen darunter. "Eine Institutionenförderung, die zwar aufwendig, aber gut ist", urteilt Stegmayer.

Sie freut sich besonders auf die Zeit, in der wieder kultureller Austausch möglich sein wird, der sich nicht aufs Private reduziert. "Theater muss man unbedingt live sehen, gemeinsam Erleben und darüber sprechen", sagt sie. "Man braucht das auch als Selbstvergewisserung."

Auch ein eher in sich gekehrter Künstler wie der Ottobrunner Maler und Illustrator Quint Buchholz, der es gewohnt ist, allein im Atelier zu arbeiten, vermisst die Möglichkeit des sozialen, unmittelbaren Diskurses und Erlebens von kreativen Ereignissen. Er hoffe 2021 wieder auf Ausstellungen und Lesungen, die 2020 fast komplett wegfielen, sagt er. "Ich bin trotzdem ganz gut durchs Jahr gekommen, im Gegensatz zu manchem meiner Kollegen, aber wenn es so weiter ginge, wäre das auch für mich materiell irgendwann spürbar." Buchholz hofft aber auch darauf, dass das Bewusstsein vom "Weniger ist mehr", das uns 2020 aufgezwungen wurde, im neuen Jahr weiter seine Wirkung zeigt, gesamtgesellschaftlich. "Die Lust auf alles, was exzessiv und laut ist, nimmt ab", hat das der Zukunftsforscher Matthias Horx einmal formuliert, "die klassischen Exzesse des Konsums, also das Immer-mehr-Kaufen, wird weniger attraktiv."

Im kulturellen Bereich könnte freilich auch ein regelrechter Hunger in den vergangenen Mangelmonaten entstanden sein - auf Theater, Kino, Konzerte - der, wenn es wieder los geht, in großem Rahmen gestillt werden müsste. Immerhin gab es ja bemerkenswerte Anteilnahme etwa von Abonnenten und anderen Kulturfreunden an der Lage der Künstler und die Bereitschaft, auch finanziell auszuhelfen und vorzuschießen. Bei aller Priorisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Konzentration auf die gesundheitlichen, quasi überlebensnotwendigen Aspekte: Ein gesunder Körper und eine gesunde Wirtschaft machen Existenz möglich, Kunst und Kultur aber machen, vereinfacht gesagt, die Existenz schön. Sie vermag die Leerstelle zu füllen, in welcher der hochfliegende Geist sonst vor lauter Effizienz- und Relevanzgedöns zu landen droht. Manche freien Ensembles und Laien-Theatergruppen können sich davon indes auch nichts kaufen.

An Proben und Aufführungen ist erst mal kaum zu denken, die Münchner Volkssängerbühne mit Stammsitz in Haar hat ihre Vorstellungen für Januar und Februar 2021 schon länger abgesagt, die Volkssängerbühne Neubiberg-Ottobrunn hat die Spielzeit 2020/21 ebenfalls beerdigt. "Wir sitzen aber hoffnungsvoll schon an der Planung der nächsten Saison 2021/2022", heißt es. Hoffnung ist ein Wort, das noch nie so stark mit dem neuen Jahr verbunden wurde wie jetzt, in allen Bereichen. Auch die Kultur, zu deren Wesen es gehört, Fragen aufzuwerfen, muss auf Antworten warten. Das identitätsstiftende Moment, das ihr, im Großen wie im Kleinen, innewohnt, es wird wichtig werden 2021. Hoffentlich.

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Quelle:
SZ vom 05.01.2021
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