Wirecard in Aschheim:"Ich wollte ihm einfach vorschlagen, dass er mir das Geld zurücküberweist"

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Vor der Wirecard-Zentrale in Aschheim trifft man Menschen, die sich wegen des Skandals rund um den Zahlungsdienstleister um ihre Zukunft sorgen. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Vor der Zentrale der Pleitefirma Wirecard trifft man auf sprachlose Mitarbeiter, schockierte Politiker und einen Aktionär, dem seine Altersvorsorge wegzubrechen droht.

Von Bernhard Lohr

Werner Tietjen hat 950 Kilometer hinter sich. Doch kurz vor dem Ziel heißt es für ihn Stopp. Zwei Männer von der Security halten den 66-jährigen an der Zufahrt zum Wirecard-Firmengelände im Gewerbegebiet Aschheim auf. Hier komme außer Mitarbeitern keiner durch, sagen sie.

Das gelte auch für Aktionäre wie ihn, machen sie dem hochgewachsenen Friesen in Motorradkluft klar, der Markus Braun sprechen möchte. Dem früheren Wirecard-Chef, der eben noch Börsenstar war und gegen den jetzt Staatsanwälte ermitteln, würden viele gerne Fragen stellen. Auch die Beschäftigten, die Freitagmittag kommen und gehen. Äußern will sich von diesen niemand zur Firma. "No, no", heißt es da. "Nein, danke."

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Die Ereignisse bei Wirecard überschlagen sich auch am Freitag. Der Betrugsverdacht erhärtet sich, weitere Manager geraten ins Visier. Viele Aktionäre wie Werner Tietjen glauben längst nicht mehr daran, ihr Geld wieder zu sehen. Bei ihm geht es um 70 000 Euro, mit denen er die Zeit bis zur vollen Rente überbrücken wollte. 600 Euro hat er jetzt noch. Zum Leben viel zu wenig. Darum setzte er sich aufs Motorrad und fuhr von Flensburg nach Aschheim, um Braun einen Deal zu unterbreiten. "Ich wollte ihm einfach vorschlagen, dass er mir das Geld zurücküberweist", sagt er, "dann ist die Sache erledigt."

Dass es so einfach nicht ist, weiß der frühere Maschinenbauer, der auch mal zur See gefahren ist. Nach außen wirkt er norddeutsch ruhig. Doch in ihm brodelt es. Er musste etwas unternehmen, um mit der Misere umzugehen, deren ganzes Ausmaß auch für viele Mitarbeiter von Wirecard noch gar nicht absehbar ist. Diese erleben gerade, wie ihr im Dax neben BMW und Allianz gelistetes Unternehmen im Bilanzskandal versinkt.

Beschwingt verlässt am Freitagmittag keiner die Wirecard-Zentrale ins Wochenende. Mehr als 1000 Beschäftigte arbeiten dort derzeit. Wie aus Mitarbeiterkreisen zu erfahren ist, ist die Verunsicherung mit Händen zu greifen. Es habe eine Betriebsversammlung gegeben. Man gehe "vom Schlimmsten aus", heißt es. Viel Substanz sei nicht vorhanden.

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Wirecard ist ein Unternehmen mit einer internationalen Belegschaft. Es wird viel Englisch gesprochen. Es geht teilweise zu wie bei einem Start-up. Einen Betriebsrat etwa gibt es bis heute nicht, auch keine Mitarbeitervertretung im Aufsichtsrat. Für Tina Scholze, Landesfachbereichsleiterin Finanzdienstleistungen bei der Gewerkschaft Verdi, ist Wirecard bis heute "eine Insel", auf der noch eigene Regeln gelten. Es ist durchaus typisch im Finanzbereich, wenn Gründer aus einer Idee ein Unternehmen hochziehen. Doch bei Wirecard gilt das noch, als man längst unter die größten Unternehmen der Republik aufgestiegen ist.

Einige Mitarbeiter hatten bei Verdi mal vorgefühlt wegen eines Betriebsrats. Es sei einiges im Argen, haben sie Scholze zufolge beklagt und befürchtet, der Vorstand werde das Vorhaben torpedieren. Die Liste von Beschäftigten ist lang, die im Netz schon vor Monaten die Unternehmenskultur bemängelten. "Von Nerds zu Nerds", schreibt jemand. Wer funktioniere, könne aufsteigen, sagt ein Mitarbeiter, der Wirecard sonst positiv beurteilt. Aber Kommunikation sei keine Stärke. "Man merkt eben, dass es ein IT-Unternehmen ist." Die Bemühungen um einen Betriebsrat verliefen im Sand. Eine Tarifbindung existiert Verdi zufolge nicht. Die Fluktuation im Unternehmen sei hoch. In der aktuellen Krise habe Verdi noch keinen Kontakt zu Wirecard-Beschäftigten, sagt Scholze.

Viele von ihnen und ihre Familien wohnen im Münchner Osten. Sie haben sich Wohnungen oder Häuser gekauft. Es sind Nachbarn von Eva Blomberg aus der Messestadt und frühere Mitschüler von Kevin Cobbe aus Aschheim. Die beiden SPD-Kommunalpolitiker fordern, bei all dem Gerede über Bilanzen und Aktienkurse die Mitarbeiter nicht aus dem Blick zu lassen. Viele seien unverschuldet in die Lage geraten, sagt Blomberg. "Ziel muss sein, sie bestmöglich dabei zu unterstützen und möglichst viele Arbeitsplätze zu retten."

Die Gemeinde Aschheim muss sich nach Jahren steigender Steuereinnahmen neu orientieren. Kommende Woche soll es im Finanzausschuss nur um Wirecard gehen. Einer der großen Steuerzahler drohe auszufallen, sagt Zweiter Bürgermeister Robert Ertl (Freie Wähler).

Viele stehen von heute auf morgen vor einer neuen Situation. Der FC Bayern München Basketball hat noch am 5. Juni den "weltweit führenden Innovationstreiber für digitale Finanztechnologie" als Platin-Partner präsentiert, wie es hieß. Mancher dachte, die vielen Wirtschaftsprüfer und der FC Bayern könnten sich doch nicht täuschen. Es kam anders. Werner Tietjen setzt sich Freitag schließlich wieder auf sein Bike. Er wolle noch zur Meldebehörde fahren, sagt er. Vielleicht sage ihm jemand, wo Markus Braun wohne. Wenn nicht, fahre er wieder nach Hause. "Ich wollte es einfach mal versuchen."

© SZ vom 27.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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